Seelen der Nacht
furchterregenden Feinden.
Über uns schloss sich eine Tür.
»Er ist wieder da. Jetzt geht er ins Zimmer seines Vaters, so wie immer, wenn er sich Sorgen macht«, erklärte Ysabeau.
Matthews wunderschöne junge Mutter saß mit leerem Blick am Feuer, während ich die Hände im Schoß rang und nichts von dem, was Marthe mir servierte, anrühren wollte. Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, aber die Leere in mir hatte nichts mit Hunger zu tun.
Ich fühlte mich wie zerschlagen, denn mein bis dahin so sorgsam geordnetes Leben war nur noch ein Scherbenhaufen. Der Abschluss in Oxford, die Stelle in Yale, meine sorgfältig recherchierten Bücher hatten meinem Leben Sinn und Struktur verliehen. Aber in dieser fremden neuen Welt voller gefährlicher Vampire und bedrohlicher Hexen bot mir all das keinen Trost mehr. Ich fühlte mich elend und angreifbar, ich war auf Gedeih und Verderb an einen Vampir gekettet, und ich spürte unbestreitbar das Hexenblut in meinen Adern.
Endlich trat Matthew, frisch geduscht und angekleidet, in den Salon. Sein Blick kam sofort auf mir zu liegen und flatterte über mich hinweg. Als er sich überzeugt hatte, dass ich wohlbehalten war, löste sich die Verhärtung um seine Mundwinkel erleichtert auf.
Ansonsten hatte das Wesen, das den Salon betreten hatte, nichts mit dem Matthew zu tun, den ich kannte. Das war nicht der elegante, charmante Vampir, der mit einem ironischen Lächeln und einer Frühstückseinladung in mein Leben getreten war. Es war auch nicht der in seine Arbeit vertiefte Wissenschaftler, den die Frage umtrieb, warum er hier war. Und ich konnte nichts mehr von dem Matthew entdecken, der mich noch am Vorabend in seine Arme gezogen und mich so leidenschaftlich und intensiv geküsst hatte.
Der neue Matthew wirkte kühl und leidenschaftslos. Die wenigen weichen Stellen, die er bis dahin gehabt hatte – seine Mundpartie, die empfindsamen Hände, die ruhigen Augen –, waren harten Kanten und Winkeln gewichen. Er kam mir älter vor, und in der Mischung aus Müdigkeit und vorsichtiger Distanz spiegelte sich jede Minute seiner fast fünfzehnhundert Lebensjahre wider.
Im Kamin knallte ein Holzscheit. Die Funken trudelten blutorangenrot in den Rost und lenkten meinen Blick ab.
Im ersten Moment war alles nur rot. Dann bekam das Rot eine Struktur und faserte sich in Stränge auf, an denen hier und da Gold und Silber glänzte. Die Struktur wurde fester – zu Haar, Sarahs Haar. Meine Finger zerrten den Träger des Rucksacks von meiner Schulter, den ich genauso gewichtig scheppernd auf den Wohnzimmerboden fallen ließ wie mein Vater an der Tür seine Aktentasche, wenn er abends heimkam.
»Ich bin zu Hause!« Meine Kinderstimme klang hoch und gut gelaunt. »Krieg ich Kekse?«
Sarah wandte den Kopf, und das rotorange Haar schien im Halbdunkel des Spätnachmittags Funken zu werfen.
Trotzdem war ihr Gesicht kalkweiß.
Das Weiß überlagerte alle anderen Farben, wurde zu Silber und nahm eine schuppenartige Struktur an. Ein Kettenhemd schmiegte sich um einen vertrauten, muskulösen Körper. Matthew.
»Ich bin fertig.« Seine weißen Hände zerrten an einer schwarzen Tunika mit silbernem Kreuz auf der Brust und rissen sie an den Schultern ein. Dann warf er sie jemandem vor die Füße, drehte sich um und stolzierte davon.
Ich blinzelte, und die Vision löste sich auf und wich den warmen Farbtönen im Salon von Sept-Tours; trotzdem blieb das verstörende Wissen um das, was gerade passiert war. Genau wie bei dem Hexenwind hatte mich nichts darauf vorbereitet, dass diese verborgene Gabe zum Leben erwachen würde. Waren die Visionen meiner Mutter genauso plötzlich und klar über sie gekommen? Ich sah mich um, doch dass etwas passiert war, war offenbar allein Marthe aufgefallen, die mich mütterlich besorgt ansah.
Matthew ging zu Ysabeau und küsste sie auf beide makellos weißen Wangen. »Es tut mir so leid, Maman «, murmelte er.
»Hein , er war schon immer ein Schwein. Du kannst nichts dafür.« Sanft drückte Ysabeau die Hand ihres Sohnes. »Ich bin froh, dass du zu Hause bist.«
»Er ist weg. Heute Nacht brauchen wir uns seinetwegen keine Sorgen zu machen«, bekundete Matthew mit schmalen Lippen. Dann fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar.
»Trinkt.« Offenbar hing Marthe der alten Schule an, dass sich jede Krise durch Essen oder Trinken bekämpfen ließ. Sie reichte Matthew ein Glas Wein und stellte einen Tee neben mir ab. Die Tasse blieb unberührt auf dem
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