Seelen der Nacht
Inzwischen marschierte Matthew auf und ab. »Du besitzt zu viele ungezügelte Kräfte. Die wirken wie eine Droge – eine gefährliche Droge mit extrem hohem Suchtpotenzial –, von der andere Wesen unbedingt kosten möchten. Du wirst immer in Gefahr sein, solange eine Hexe oder ein Vampir in deiner Nähe ist.«
Ich klappte den Mund auf, um etwas zu erwidern, aber der Fleck, auf dem er eben noch gestanden hatte, war leer. Matthews eisige Finger legten sich unter mein Kinn und hoben mich hoch.
»Ich bin ein Raubtier, Diana.« Seine Stimme klang wie die eines Liebhabers. Das dunkle Nelkenaroma betörte mich. »Ich muss jagen und töten, um zu überleben.« Er drehte mein Gesicht mit einem schmerzhaften Griff zur Seite und legte dabei meinen Hals frei. Rastlos tasteten seine Augen meinen Nacken ab.
»Matthew, lass Diana los.« Ysabeau klang völlig unbeteiligt, und auch mich konnte er damit nicht erschüttern. Aus irgendeinem Grund versuchte er mich abzuschrecken, aber mir drohte keine Gefahr – anders als vorhin bei Domenico.
»Sie glaubt, sie würde mich kennen, Maman«, schnurrte er. »Aber Diana weiß nicht, wie es ist, wenn sich dein Magen vor Lust auf einen Warmblüter zusammenzieht, bis du fast verrückt wirst. Oder wie schwer es mir fällt, ihr so nahe zu sein, ohne sie zu kosten.«
Ysabeau erhob sich, blieb aber vor ihrem Sessel stehen. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, ihr das zu zeigen, Matthew.«
»Verstehst du, es geht nicht nur darum, dass ich dich auf der Stelle töten könnte«, fuhr er fort, als hätte er seine Mutter gar nicht gehört. »Ich könnte dich ganz langsam trinken, dir dein Blut stehlen und dann abwarten, bis es sich wieder neu gebildet hat, nur um am nächsten Tag von Neuem zu beginnen.« Seine Hand wanderte von meinem Kinn weiter an mein Genick, und sein Daumen strich dabei über meine Halsschlagader, als wollte er abschätzen, wo genau er mir die Zähne ins Fleisch schlagen sollte.
»Hör auf«, sagte ich scharf.
Matthew ließ mich unvermittelt auf den weichen Teppich fallen. Bis ich den Aufprall spürte, stand der Vampir schon an der Wand gegenüber, den Rücken mir zugewandt und mit gesenktem Kopf.
Ich starrte auf das Teppichmuster unter meinen Händen und Knien.
Ein Farbenwirbel, zu bunt, um die einzelnen Farben zu unterscheiden, drehte sich vor meinen Augen.
Es waren Blätter, die vor dem blauen Himmel tanzten – grün, braun, blau und gold.
»Es geht um deine Mom und deinen Dad«, erklärte mir Sarah gepresst. »Sie sind tot. Sie sind nicht mehr da, mein Schatz.«
Ich löste den Blick von dem Teppich und sah auf den Vampir, der mit dem Rücken zu mir an der Wand stand.
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf.
»Was ist, Diana?« Als Matthew sich umdrehte, war das Raubtier verschwunden, und ich sah die Sorge in seinem Blick.
Der Farbenwirbel schlug mich wieder in Bann – grün, braun, blau, gold. Es waren Blätter, die in einem kleinen Strudel auf einem Teich kreisten und um mich herum zu Boden trudelten. Ein Bogen, gekrümmt und poliert, stand neben einigen Pfeilen und einem halb leeren Köcher.
Ich griff nach dem Bogen und spürte, wie mir die straffe Sehne ins Fleisch schnitt.
»Matthew«, warnte Ysabeau und schnupperte unauffällig.
»Ich weiß, ich rieche es auch«, bestätigte er grimmig.
Er gehört zu dir, flüsterte eine fremde Stimme. Du darfst ihn nicht gehen lassen.
»Ich weiß«, murmelte ich ungeduldig.
»Was weißt du, Diana?« Matthew kam einen Schritt auf mich zu.
Augenblicklich war Marthe an meiner Seite. »Lass sie«, zischte sie. »Das Kind ist nicht in dieser Welt.«
Ich war nirgendwo, ich hing fest zwischen dem grauenhaften Schmerz über den Tod meiner Eltern und dem sicheren Wissen, dass ich auch Matthew bald verlieren würde.
Sei vorsichtig , warnte mich die fremde Stimme.
»Dafür ist es zu spät.« Ich hob die Hand vom Boden, schlug damit
auf den Bogen und zerschmetterte ihn in zwei Hälften. »Viel zu spät.«
»Wofür ist es zu spät?«, fragte Matthew.
»Ich liebe dich bereits.«
»Das geht nicht«, sagte er wie betäubt. Bis auf das Knistern des Feuers war es absolut still im Raum. »Dafür ist es zu früh.«
»Was versteht ihr Vampire schon von Zeit?«, sinnierte ich laut, immer noch gefangen in meinem irritierenden Schwebezustand zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dennoch hatte sich bei dem Wort »Liebe« ein warmes, besitzergreifendes Gefühl in mir ausgebreitet, das mich ins Hier und Jetzt
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