Seelen der Nacht
nicht ansehen. »Hexen belegen niemanden ohne guten Grund mit einem Bannfluch.«
Matthew blieb stumm. Ich wagte einen Seitenblick. Aus dem Augenwinkel konnte ich gerade so seine Beine erkennen – eines ausgestreckt, das andere angewinkelt – und dazu eine lange, weiße Hand, die locker über seinem Knie lag.
»Deine Eltern hatten einen verdammt guten Grund. Sie wollten das Leben ihrer Tochter retten.« Er sprach ruhig und gelassen, aber ich hörte die Emotionen darunter. »Ich hätte das Gleiche getan.«
»Wusstest du auch, dass ich unter einem Bann stehe?« Ich klang vorwurfsvoll, obwohl ich das gar nicht wollte.
»Marthe und Ysabeau haben es sich zusammengereimt. Sie haben es mir erzählt, bevor wir nach La Pierre aufbrachen. Emily hat ihre Vermutungen bestätigt. Ich hatte keine Gelegenheit, es dir zu erzählen.«
»Wie konnte Em das nur vor mir geheimhalten?« Ich fühlte mich genauso verraten und verlassen wie in jenem Moment, als Satu mir erzählt hatte, was Matthew getan hatte.
»Du musst deinen Eltern und Emily verzeihen. Sie taten, was sie für das Beste hielten – für dich.«
»Du verstehst das nicht, Matthew.« Ich schüttelte eigensinnig den Kopf. »Bevor meine Mutter nach Afrika aufbrach, hat sie mich in Fesseln gelegt, als wäre ich ein böses, irregeleitetes Geschöpf, dem man nicht trauen darf.«
»Deine Eltern haben sich Sorgen gemacht wegen der Kongregation.«
»Unfug.« Meine Finger kribbelten, doch ich drängte das Gefühl bis
an die Ellbogen zurück, weil ich keinesfalls die Beherrschung verlieren wollte. »Nicht alles hat mit der verfluchten Kongregation zu tun, Matthew.«
»Nein, aber das hier schon. Um das zu erkennen, muss man keine Hexe sein.«
Ohne Vorwarnung erschien vor meinem inneren Auge der weiße Tisch, auf dessen Fläche verschiedene Episoden aus Vergangenheit und Gegenwart verstreut lagen. Die Puzzleteile begannen sich zu ordnen: meine Mutter, die hinter mir herjagte, nachdem ich in die Hände geklatscht hatte und über den Linoleumboden in unserer Küche in Cambridge geflogen war, mein Vater, der sich in seinem Arbeitszimmer laut mit Peter Knox stritt, eine Gutenachtgeschichte über eine gute Fee und magische Bänder, meine Eltern, die nebeneinander an meinem Bett standen, Zaubersprüche aufsagten und ihre Magie wirken ließen, während ich still auf meiner Bettdecke lag. Die Teile fügten sich aneinander, bis ein klares Bild entstand.
»Die Gutenachtgeschichten meiner Mutter«, sagte ich und sah ihn erstaunt an. »Sie konnte mir ihre Ängste nicht offen gestehen, darum erzählte sie mir eine Geschichte über böse Hexen und verzauberte Bänder und eine gute Fee. Sie erzählte mir die Geschichte jeden Abend, damit ich sie tief in meinem Inneren bewahrte.«
»Erinnerst du dich an noch etwas?«
»Bevor mich die beiden mit einem Bann belegten, kam Peter Knox meinen Vater besuchen.« Ich schauderte, als ich es wieder läuten hörte und die Miene meines Vaters sah, sobald er die Tür öffnete. »Diese Kreatur war in meinem Haus. Er hat meinen Kopf berührt.« Ich musste daran denken, wie beklemmend es sich angefühlt hatte, als Knox seine Hand auf meinen Hinterkopf gelegt hatte.
»Mein Vater schickte mich auf mein Zimmer, dann begannen die beiden zu streiten. Meine Mutter blieb in der Küche. Ich fand es merkwürdig, dass sie nicht nachsah, was sich da abspielte. Dann verschwand mein Vater für eine Weile. Meine Mutter war außer sich. In derselben Nacht rief sie Em an.« Jetzt kamen die Erinnerungen in einem breiten, schnellen Strom.
»Emily hat mir erzählt, Rebecca hätte den Bann so gewoben, dass er intakt bleiben würde, bis der Schattenmann käme. Deine Mutter glaubte, dass ich dich vor Knox und der Kongregation beschützen könnte.« Sein Gesicht verdüsterte sich.
»Niemand hätte mich beschützen können – niemand außer mir selbst. Satu hat recht. Ich bin wirklich eine erbärmliche Hexe.« Wieder ließ ich den Kopf auf die Knie sinken. »Ich bin ganz und gar nicht wie meine Mutter.«
Matthew stand auf und streckte mir eine Hand hin. »Steh auf«, sagte er unvermittelt.
Ich schob meine Hand in seine und wartete darauf, dass er mich tröstend an seine Brust drücken würde. Stattdessen schob er meine Arme in die Ärmel des blauen Parkas und trat einen Schritt zurück.
»Du bist eine Hexe. Es wird Zeit, dass du lernst, auf dich selbst aufzupassen.«
»Nicht jetzt, Matthew.«
»Ich wünschte, wir könnten dir die Entscheidung überlassen,
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