Seelen der Nacht
Funkenbogen sprangen zwischen meinen Fingern auf.
»Setz deine Kraft ein«, keuchte er. »Anders kannst du mich nicht bekämpfen.«
Meine Hände schwenkten in seine Richtung. Es wirkte nicht besonders bedrohlich, aber etwas anderes fiel mir nicht ein. Matthew zeigte mir, wie wertlos meine Anstrengungen waren, indem er mich ansprang und mich um die eigene Achse wirbelte, bevor er wieder zwischen den Bäumen verschwand.
»Du bist tot – schon wieder.« Ich hörte seine Stimme rechts von mir.
»Was du auch versuchst, es funktioniert nicht!«, rief ich in seine Richtung.
»Ich bin hinter dir«, schnurrte er mir ins Ohr.
Mein Schrei teilte die Stille des Waldes, und der Wind spann mich in einen Wirbelsturm ein. »Bleib weg von mir!«, brüllte ich ihn an.
Matthew griff entschlossen nach mir und durchbrach mit den Händen meine Windbarriere. Ich schleuderte ihm in einer rein instinktiven Reaktion meine Arme entgegen, und ein heftiger Windstoß wehte ihn von den Füßen. Er sah überrascht auf, dann zeigte sich tief in seinen Augen das Raubtier. Wieder kam er auf mich zu, um die Windmauer zu durchbrechen. Ich konzentrierte mich ganz darauf, ihn zurückzustoßen, doch die Luft reagierte nicht so, wie ich es wollte.
»Du darfst es nicht erzwingen«, sagte Matthew. Furchtlos hatte er sich durch den Zyklon gekämpft und bohrte jetzt die Finger in meinen Oberarm. »Deine Mutter hat dich mit einem Bann belegt, damit niemand gegen deinen Willen deine Magie heraufbeschwören kann – nicht einmal du selbst.«
»Wie soll ich sie dann herbeirufen, wenn ich sie brauche, und wie soll ich sie kontrollieren?«
»Das musst du selbst herausfinden.« Matthews Schneeflockenblick huschte über meinen Hals und meine Schultern und erfasste dabei instinktiv die wichtigsten Schlagadern.
»Ich kann nicht.« Plötzlich schnürte mir Panik die Brust zu. »Ich bin keine Hexe.«
»Hör auf, das ständig zu sagen. Es stimmt nicht, wie du genau weißt.« Abrupt entließ er mich aus seinem Griff. »Mach die Augen zu. Und geh los.«
»Was?«
»Ich habe dich wochenlang beobachtet, Diana.« Er bewegte sich wie eine Raubkatze, und der Nelkengeruch war so stark, dass es mir die Kehle zuschnürte. »Du musst dich bewegen und alle anderen Sinneseindrücke ausschalten, damit du nur noch spürst. « Er gab mir einen
Schubs, und ich stolperte los. Als ich mich umdrehte, war er bereits verschwunden.
Mein Blick tastete die Bäume ab. Im Wald war es gespenstisch still, weil sich alle Tiere vor dem mächtigen Raubtier in ihrer Mitte versteckten.
Ich schloss die Augen und begann tief durchzuatmen. Eine leise Brise zog an mir vorbei, erst in die eine Richtung, dann in die andere. Es war Matthew, der mich auf die Probe stellen wollte. Ich konzentrierte mich auf meinen Atem, versuchte, so ruhig zu werden wie alle anderen Tiere im Wald, und marschierte los.
Ich spürte eine Art Enge zwischen den Augen. Ich atmete hinein, getreu Amiras Yogaanweisungen und Matthews Rat, meinen Visionen freien Lauf zu lassen. Das enge Gefühl ging erst in ein Kribbeln über, und dann öffnete sich mein geistiges Auge – das dritte Auge aller Hexen – zum ersten Mal ganz und gar.
Ich nahm alles wahr, was in dem Wald lebte – die Pflanzen, die Energie im Erdboden, das Wasser unter der Humusschicht –, und alle Lebenskräfte unterschieden sich in Farbe und Helligkeit. Mein drittes Auge sah die Kaninchen in ihrem Bau unter einem Baum hocken, mit hoppelnden Herzen, weil sie den Vampir rochen. Es entdeckte die Schleiereulen, die vorzeitig aus ihrem Spätnachmittagsschläfchen gerissen worden waren, weil dieses Wesen wie ein Panther von Ast zu Ast setzte. Die Kaninchen und Eulen wussten, dass sie ihm nicht entkommen konnten.
»König der Wildnis«, flüsterte ich.
Matthews leises Lachen sickerte zwischen den Bäumen hindurch.
Kein Geschöpf in diesem Wald konnte im Kampf gegen Matthew bestehen. »Außer mir«, hauchte ich.
Mein drittes Auge tastete den Wald ab. Ein Vampir lebt nicht wirklich, darum war er zwischen der blendenden Energie, die mich umgab, nur schwer auszumachen. Schließlich hatte ich seine Silhouette als Verdichtung von Dunkelheit erspäht, wie eine Art schwarzes Loch mit rotglühenden Rändern, wo seine übernatürliche Lebenskraft auf die Vitalität der Welt um ihn herum stieß. Instinktiv wandte ich ihm
mein Gesicht zu und zeigte ihm damit, dass ich ihn im Auge hatte. Sofort huschte er weg und verschwand im Schatten zwischen den
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