Seelen der Nacht
Abendessen spazieren geht.«
»Wir sind das am wenigsten normale Paar im ganzen Staat New York«, korrigierte Matthew mich sarkastisch. »Und in diesem Tempo wirst du nicht mal leicht in Schweiß geraten.«
»Was schwebt dir denn vor?« Während der vorangegangenen Spaziergänge war klar geworden, dass Matthews mit seinem Wolfsinstinkt es am meisten genoss, wenn er wie ein übergroßer Welpe durch den Wald tollen konnte. Ständig dachte er sich neue Methoden aus, spielerisch meine Kräfte heraufzubeschwören, damit ich es nicht sattbekam, sie einzuüben. Die dumpfe, pflichtbewusste Büffelei überließ er Sarah.
»Du bist dran.« Er warf mir einen frechen Blick zu, dem ich unmöglich widerstehen konnte, und schoss in einer Explosion von Kraft und Geschwindigkeit davon. »Fang mich doch.«
Lachend lief ich ihm hinterher, löste dabei die Füße vom Boden und beschwor vor meinem inneren Auge herauf, wie ich seine breiten Schultern erreichte und umfasste. Je präziser die Vision wurde, desto schneller wurde ich, nur meine Wendigkeit ließ noch zu wünschen übrig. Weil ich so schnell wie möglich zu fliegen und dabei gleichzeitig in die Zukunft zu schauen versuchte, stolperte ich prompt über eine Ranke. Doch bevor ich auf dem Boden aufschlagen konnte, hatte Matthew mich aufgefangen.
»Du riechst nach frischer Luft und Holzrauch«, sagte er und drückte die Nase in meine Haare.
Eine Unregelmäßigkeit zog durch den Wald, die eher zu fühlen als zu sehen war. Eine Beugung des schwächer werdenden Lichtes, der Schatten einer Bewegung, eine Aura intensiver Dunkelheit. Nervös sah ich über meine Schulter.
»Da ist jemand«, flüsterte ich.
Der Wind ging von uns weg. Matthew hob den Kopf und nahm die Witterung auf. Mit einem scharfen Atemzug hatte er sie identifiziert.
»Ein weiblicher Vampir«, sagte er, griff nach meiner Hand und richtete sich auf. Er drückte mich gegen den Stamm einer Weißeiche.
»Freund oder Feind?«, fragte ich zittrig.
»Verschwinde. Sofort.« Schon hatte Matthew sein Handy gezückt und jene Kurzwahltaste gedrückt, die ihn mit Marcus verband. Fluchend hörte er die Mailboxansage. »Jemand verfolgt uns, Marcus. Komm her – und zwar schnell.« Er trennte die Verbindung und drückte die nächste Taste, die das SMS-Programm öffnete.
Der Wind drehte, und die Haut um seine Mundwinkel spannte sich an. »Jesus, nein.« Seine Finger flogen über die Tastatur und hatten zwei Worte eingetippt, bevor er das Handy ins nahe Gebüsch schleuderte. »SOS. Juliette.«
Er drehte sich zu mir um und packte mich bei den Schultern. »Mach das, was du in der Rezeptur gemacht hast. Mach einen Riesenschritt, und geh ins Haus zurück. Sofort, Diana. Das ist keine Bitte, das ist ein Befehl.«
Meine Füße waren wie angewurzelt und weigerten sich, ihm zu gehorchen. »Ich weiß nicht, wie. Ich kann nicht.«
»Du wirst es tun.« Den Rücken dem Wald zugewandt, stemmte er die Arme links und rechts von mir gegen den Stamm. »Gerbert hat mich dieser Vampirin vor langer Zeit vorgestellt. Man darf ihr nicht trauen und sie nicht unterschätzen. Wir haben im achtzehnten Jahrhundert ein paar Jahre zusammen in Frankreich verbracht und im neunzehnten Jahrhundert einige Zeit in New Orleans. Ich werde dir später alles erklären. Jetzt geh.«
»Ich gehe nicht ohne dich«, widersprach ich eigensinnig. »Wer ist Juliette?«
»Ich bin Juliette Durand.« Die melodische Stimme mit dem französisch angehauchten Akzent kam von oben. Wir sahen beide auf. »Wie viel Ärger ihr uns bereitet habt …«
Eine atemberaubende Vampirin hockte auf dem dicken Ast eines
nahen Ahornbaumes. Ihre Haut war hellbraun wie Milchkaffee, und ihr Haar leuchtete in einer Mischung aus Braun und Kupfer. In die Farben des Herbstes gekleidet – Braun, Grün und Gold –, sah sie aus wie ein fester Teil des Baumes. Große haselnussbraune Augen saßen über hohen Wangenknochen, und ihr Körperbau strahlte eine Zierlichkeit aus, unter der sich, wie ich wusste, ungeheure Kräfte verbargen.
»Ich habe euch beobachtet – und belauscht. Eure Düfte haben sich vermischt.« Sie schnalzte tadelnd mit der Zunge.
Ich sah nicht, wie sie vom Ast herunterkam, doch Matthew schon. Er hatte sich so zur Seite gedreht, dass er mich abschirmen würde, wenn sie landete. Die Lippen warnend angespannt, baute er sich vor ihr auf.
Juliette beachtete ihn gar nicht. »Ich muss sie mir ansehen.« Sie legte den Kopf schräg, hob kaum sichtbar das Kinn und starrte
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