Seelen der Nacht
presste den Rücken gegen die Stuhllehne.
»Seien Sie nicht so selbstgefällig«, bemerkte er knapp. »Vielleicht hat Ihnen der Zufall geholfen – vielleicht handelt es sich um eine Jahrestags-Reaktion, die mit dem Datum des verhängten Fluches zu tun hat. Wenn so viel Zeit verstreicht, kann das einen Hexenspruch beeinflussen, und Jahrestage sind besonders empfindliche Momente. Sie haben noch nicht versucht, die Handschrift ein zweites Mal abzurufen, aber vielleicht würde Ihnen das nicht mehr so leichtfallen wie beim ersten Mal.«
»Und welcher Jahrestag sollte das sein?«
»Der hundertfünfzigste.«
Ich hatte mich schon gefragt, warum eine Hexe das Manuskript mit einem Bann belegen sollte. Offenbar hatte schon damals jemand nach diesem Buch gesucht. Ich wurde blass. Damit waren wir wieder bei Matthew Clairmont und seinem Interesse an Ashmole 782 .
»Sie können mir doch noch folgen, oder? Wenn Sie Ihren Vampir das nächste Mal treffen, dann fragen Sie ihn, was er im Herbst des Jahres 1859 getrieben hat. Ich bezweifle, dass er Ihnen die Wahrheit sagen wird, aber vielleicht verrät er Ihnen so viel, dass Sie es sich selbst zusammenreimen können.«
»Ich bin müde. Warum verraten Sie mir nicht, so von Hexe zu Hexe, wieso Sie sich für Ashmole 782 interessieren?« Ich hatte gehört, warum die Dämonen das Manuskript haben wollten. Selbst Matthew hatte mir eine Art Erklärung geliefert. Knox’ Faszination war ein fehlendes Puzzlesteinchen.
»Das Manuskript gehört uns!«, verkündete Knox entschieden. »Wir sind die Einzigen, die seine Geheimnisse verstehen und sie zuverlässig bewahren können.«
»Was steht in der Handschrift?« Inzwischen ging mein Temperament mit mir durch.
»Die ersten je ersonnenen Zaubersprüche. Beschreibungen der magischen Zauber, die diese Welt zusammenhalten.« Knox sah verträumt ins Leere. »Das Geheimnis der Unsterblichkeit. Wie die Hexen den ersten Dämon zeugten. Wie sich die Vampire ein für alle Mal vernichten lassen.« Sein Blick bohrte sich in meine Augen. »Das Manuskript ist der Quell unserer Macht in Vergangenheit und Gegenwart. Es darf auf gar keinen Fall in die Hände der Dämonen oder Vampire fallen – oder in die der Menschen.«
Auf einmal setzten mir die Ereignisse des Nachmittags so zu, dass ich die Knie zusammenpressen musste, damit sie nicht schlotterten. »Niemand würde so viele Informationen in ein einziges Buch packen.«
»Die erste Hexe hat es getan«, erklärte mir Knox. »Und ihre Söhne und Töchter haben es ihr im Lauf der Jahre gleichgetan. Es bewahrt
unsere Geschichte, Diana. Die möchten Sie doch bestimmt vor neugierigen Blicken schützen.«
Marsh trat ein, als hätte er hinter der Tür gewartet. Die Spannung im Raum war zum Schneiden, aber er schien nichts davon zu spüren.
»Nur ein Sturm im Wasserglas.« Marsh schüttelte das weiße Haupt. »Die Frischlinge haben sich illegal Alkohol besorgt. Man fand sie unter einer Brücke, ein bisschen benebelt zwar, aber vollkommen zufrieden mit ihrer Situation. Vielleicht entspinnt sich daraus sogar eine Romanze.«
»Das freut mich aber«, murmelte ich. Die Uhr schlug dreiviertel, und ich stand auf. »Ist es schon so spät? Ich bin zum Abendessen verabredet.«
»Sie werden nicht mit uns speisen?«, fragte Marsh stirnrunzelnd. »Peter hat sich so darauf gefreut, mit Ihnen über Alchemie diskutieren zu können.«
»Unsere Wege kreuzen sich bestimmt wieder. Schon bald«, fiel Knox ihm sofort ins Wort. »Ich hatte mich nicht angekündigt, und natürlich hat die Lady Besseres zu tun, als mit zwei Männern unseres Alters zu Abend zu essen.«
Hüte dich vor Matthew Clairmont«, hörte ich Knox’ Stimme in meinem Kopf. Er ist ein Killer.
Marsh lächelte. »Ja natürlich. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder – sobald sich die Frischlinge eingelebt haben.«
»Frag ihn, was 1859 passiert ist. Du wirst sehen, ob er eine Hexe in seine Geheimnisse einweiht.«
»Wenn du die Geschichte kennst, ist sie wohl kaum ein Geheimnis.« Knox Miene zeigte blankes Erstaunen, als ich auf seine telepathische Warnung reagierte. Damit hatte ich in diesem Jahr zum sechsten Mal Magie eingesetzt, aber hier galten eindeutig mildernde Umstände.
»Es wäre mir ein Vergnügen, Professor Marsh. Und noch einmal vielen Dank, dass Sie mich dieses Jahr in Ihrem College aufgenommen haben.« Ich nickte dem Hexer zu. »Mr Knox.«
Ich floh aus Marshs Apartment in den Kreuzgang, mein altes Refugium, wo ich unter den Säulen
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