Seelen der Nacht
um uns herum war unnatürlich kalt und klar geworden.
»Deine Mutter und dein Vater waren genauso unnahbar wie du. Sie glaubten, sie könnten auf die Unterstützung des Konvents von Cambridge verzichten, nachdem sie geheiratet hatten. Aber sie wurden eines Besseren belehrt, nicht wahr?«
Ich schloss die Augen, aber ich konnte unmöglich das Bild ausblenden, das ich mein Leben lang zu vergessen versucht hatte: wie die Leichen meiner Mutter und meines Vaters irgendwo in Nigeria zerschmettert und blutverschmiert inmitten eines Kreidekreises lagen. Meine Tante hatte mir nicht erzählen wollen, wie sie gestorben waren, darum hatte ich mich in die örtliche Bibliothek geschlichen, um mich selbst schlau zu machen. Damals sah ich das Bild und die blutrünstige Schlagzeile zum ersten Mal. Danach hatten mich die Albträume nicht mehr losgelassen.
»Der Konvent in Cambridge hätte rein gar nichts unternehmen können, um den Mord an meinen Eltern zu verhindern. Sie wurden auf einem anderen Kontinent von verängstigten Menschen umgebracht.« Ich umklammerte die Armlehnen meines Stuhles und hoffte gleichzeitig, dass Gillian meine weißen Knöchel nicht auffielen.
Die reagierte mit einem unangenehmen Lachen. »Das waren keine Menschen, Diana. Sonst hätte man die Mörder gefasst und verurteilt.« Sie ging in die Hocke und sah mir aus nächster Nähe ins Gesicht. »Rebecca Bishop und Stephen Proctor hatten Geheimnisse vor anderen Hexen. Wir mussten herausfinden, was sie für sich behalten wollten. Ihr Tod war bedauerlich, aber nicht abzuwenden. Dein Vater hatte mehr Macht, als wir uns je erträumt hätten.«
»Hör auf, über meine Familie und meine Eltern zu reden, als würden sie euch gehören«, warnte ich sie. »Sie wurden von Menschen ermordet.« In meinen Ohren rauschte es, und um uns herum wurde es immer eisiger.
»Bist du dir sicher?«, flüsterte Gillian, und die Kälte drang mir bis ins Mark. »Als Hexe müsstest du es doch spüren, wenn ich dich anlügen würde.«
Entschlossen, mir die Verwirrung nicht anmerken zu lassen, ließ ich mein Gesicht erstarren. Was Gillian über meine Eltern sagte, konnte
unmöglich wahr sein, dennoch bemerkte ich keines der unterschwelligen Signale, die typischerweise zu spüren waren, wenn Hexen einander die Unwahrheit sagten – den aufflammenden Zorn, das überwältigende Gefühl von Verachtung.
»Wenn du das nächste Mal eine Einladung zu einer Konventversammlung ausschlägst, dann denk daran, was Bridget Bishop und deinen Eltern widerfahren ist«, murmelte Gillian und brachte dabei ihre Lippen so nah an mein Ohr, dass ich ihren Atem spürte. »Eine Hexe sollte keine Geheimnisse vor anderen Hexen haben. Sonst können schreckliche Dinge passieren.«
Gillian richtete sich auf und sah mich ein paar Sekunden schweigend an. Das Kribbeln ihres Blickes wurde mit jeder Sekunde unangenehmer. Ich weigerte mich, ihr in die Augen zu sehen, und starrte stattdessen wie gebannt auf das geschlossene Manuskript von mir.
Kaum war sie gegangen, normalisierte sich die Temperatur im Raum. Als mein Herz endlich zu pochen aufgehört hatte und das Rauschen in meinen Ohren abgeklungen war, packte ich mit zitternden Händen meine Sachen zusammen. Ich wollte nur noch in mein Apartment zurück. Adrenalin durchströmte meinen Körper, und ich war nicht sicher, wie lange ich die Panik noch würde in Schach halten können.
Es gelang mir, die Bibliothek ohne weitere Vorfälle zu verlassen und dabei Miriams scharfem Blick auszuweichen. Falls Gillian recht hatte, musste ich mich weniger vor der Angst der Menschen, sondern vor allem vor dem Neid meiner Mithexen fürchten. Und seit sie von den verborgenen Kräften meines Vaters gesprochen hatte, zuckte am Rand meines Bewusstseins eine verschwommene Erinnerung auf, die sich mir jedoch immer wieder entzog, sobald ich sie festzuhalten versuchte.
Im New College winkte mir Fred von der Pförtnerloge aus mit einem dicken Briefstapel zu. Obenauf lag ein cremefarbener, fetter Umschlag, der sich eindeutig nach Büttenpapier anfühlte.
Es war eine Nachricht von Nicholas Marsh, dem Leiter des Wohnheimes, der mich auf einen Aperitif vor dem Abendessen einlud.
Oben überlegte ich, ob ich seine Sekretärin anrufen und mich krank
melden sollte, um mich vor der Einladung zu drücken. In meinem Kopf drehte sich alles, und ich glaubte nicht, dass ich in meinem augenblicklichen Zustand auch nur einen Tropfen Sherry bei mir behalten konnte.
Aber das College hatte sich sehr
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