Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
aber das gelang ihr nie richtig. Meistens gab sie anderen die Schuld an ihrem Unglück und ihren Fehlern. Natürlich hatte sie Tobbi ausgequetscht, aber er hatte ihr Dinge gesagt, die sie gar nicht wissen wollte. Selbst wenn sie jetzt nicht zu dem Baum schaute, musste sie die ganze Zeit an ihn denken und meinte sogar, das Rascheln der paar welken Blätter zu hören, die sich zu Anfang des Winters nicht von den Ästen gelöst hatten. Das Rascheln wehte wie ein leises Flüstern um die Häuser auf dem Hof.
Der Vogel war nirgends zu sehen. Es wäre gut gewesen, ihn in der Nähe zu wissen. Als Aldís ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er furchtbar abgemagert und zerrupft gewesen. Deshalb hatte sie nach dem Abendessen ein kleines Stück Butter zu den Brotkrümeln gelegt, die seit dem Morgen unangetastet dalagen. Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen, und er sehnte sich nur nach dem Frühling.
Sie kam an Veigars Auto vorbei. In den letzten Tagen war es fast zugeschneit, und die Jungen würden es ausgraben müssen. Sobald die Schaufeln in die Nähe des hellblauen Lacks kämen, müssten sie sie beiseitelegen und den Rest mit den Händen abwischen. Aldís hatte den Jungen schon mal geholfen, Schneekügelchen von ihren Handschuhen zu zupften, weil ihre Hände zu durchgefroren waren, um es selbst zu machen. Vielleicht würde sie sich am Tag ihrer Abreise einen Nagel besorgen und den Wagen zerkratzen. Das wäre eine angemessene Rache im Namen der Jungen, von denen viele nach ihrem Aufenthalt im Heim ganz abgearbeitete Hände hatten. Der Mond spiegelte sich im Autofenster und Aldís konnte nicht hineinschauen. Eigentlich war das noch schlimmer, als zu den Fenstern der Häuser hinaufzublicken. Die Leute hinter den Fenstern konnten sie nicht einholen, doch wenn jemand im Wagen saß, musste er nur den Griff packen und die Tür aufstoßen. Er könnte sie in Sekundenschnelle überwältigen. Aldís fiel es schwer, ihre Augen von dem Auto zu lösen, und ging ein paar Schritte rückwärts, um ihm nicht den Rücken zukehren zu müssen. Dabei gab es keine Spuren im Schnee, und das Fahrzeug war seit Tagen nicht mehr bewegt worden.
Aldís war heilfroh, als sie endlich am Ziel war. Vorsichtig öffnete sie die Tür, damit die Angeln nicht quietschten. Eine Wolke war vor den Mond gezogen, so dass sie ihre eigene Hand nicht mehr vor Augen sah, als sie eine Kerze und Streichhölzer aus ihrer Jackentasche zog. Im Haus war kein Laut zu hören, nur das Ticken der großen Standuhr, die in der Nische hinter dem Vorraum stand. Bisher hatte sie das Geräusch immer als angenehm empfunden, es erinnerte sie an die geschnitzte Tischuhr, die ihre Mutter von ihrem Großvater geschenkt bekommen hatte, als er von seiner letzten Tour auf dem Frachtschiff nach Hause gekommen war. Aldís hatte ihren Großvater nie getroffen, da er am Tag nach seiner letzten Tour unerwartet gestorben war, doch im Ticken der Uhr meinte sie immer seinen Herzschlag zu hören, der ihr sagte, dass sie zwar keinen Vater hätte, der sie liebte, aber ihr Großvater im Himmel über sie wache. Doch das Ticken der Standuhr schien nicht aus einem lebendigen Herzen zu kommen, sondern die Stunden bis zu einem qualvollen Wendepunkt zu zählen.
Aldís kannte im Erdgeschoss jeden Winkel, doch es war, als hätte die Dunkelheit die Proportionen durcheinandergebracht. Auf dem Weg ins Haus rammte sie gegen den Türrahmen und hätte fast den kleinen Tisch im Flur umgestoßen. Das Licht der Kerze flackerte und spielte ihr Streiche. Der gelbliche Schein reichte nicht weit, nur bis kurz vor ihre Nase. Deshalb hielt sie die Kerze weit weg von ihrem Körper und ging sehr langsam. Die vertraute Umgebung tanzte im Takt mit der Flamme, und ihre Schritte zum Keller wurden immer schwerer. Als sie endlich die Bodenluke am Ende des Flurs erreicht hatte, wäre sie am liebsten umgekehrt und hinausgerannt wie ein geprügelter Hund. Doch sie riss sich zusammen, nahm den Handgriff und hob die Luke an, starrte einen kurzen Moment auf die nach unten führende Holztreppe und hörte sich selbst heftig atmen. Die ersten Stufen waren deutlich erkennbar, aber dahinter war alles schwarz. Ein modriger Geruch schlug ihr entgegen. Dann duckte sie sich unter die Luke und tastete sich vorsichtig nach unten. Das Geräusch der Luke, die hinter ihr zuklappte, hallte durch den dunklen Keller, und Aldís musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um nicht umzukehren.
Unten angelangt, machte sie sich sofort ans Werk. Der Drang,
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