Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Etage über sich hörte Aldís den Holzboden knarren.
26. Kapitel
Es war nicht angenehm, Geriatrie-Abteilungen und Altenheime zu besuchen und von den Bewohnern angestarrt zu werden, in der Hoffnung, man sei gekommen, um ihnen die Zeit zu vertreiben. Óðinn schaute starr geradeaus, sah aber dennoch aus dem Augenwinkel, wie sich in den Krankenzimmern mühselig Köpfe von den Kissen hochreckten, um zu sehen, wer dort vorbeiging. Ihm fiel ein, wie er für Baldur ein Angebot für ein Projekt erstellt hatte, bei dem Arbeiterunterkünfte benötigt wurden. Es war streng verboten gewesen, mehr als eine Person in einem Zimmer unterzubringen, und hier lagen teilweise vier in einem Raum. Óðinn überholte eine alte Frau, die sich mit einem Rollator vorwärtsschleppte. Sie trug ein Schild mit dem Namen der Einrichtung und einer Telefonnummer um den Hals.
Eine gestresste Krankenschwester hatte Óðinn den Weg zum Aufenthaltsraum am Ende des Gangs gezeigt, wo Lilja Sævarsdóttir auf ihn wartete. Er hatte es sich verbeten, in ihrem Zimmer in Anwesenheit ihrer Mitbewohnerinnen mit ihr zu reden. Der Aufenthaltsraum sah genauso aus wie in allen öffentlichen Einrichtungen: Holzsofas mit einfarbigen Polsterauflagen, die eher an ein Wartezimmer als an ein Wohnzimmer erinnerten. An der Wand hing ein Nachdruck eines Gemäldes von Gunnlaugur Scheving, das einen Mann zeigte, der in einem Boot stand und Fisch einholte, in einem gelben Ölmantel und mit einem dazu passenden Südwester auf dem Kopf. Außerdem gab es noch einen großen Fernseher mit einem verschmierten Bildschirm und ein Regal mit allerlei Nippes und ein paar Büchern, die wahrscheinlich von ihren Besitzern zurückgelassen worden waren, als sie verlegt worden oder gestorben waren. Angesichts des körperlichen und geistigen Zustands der Bewohner bezweifelte Óðinn, dass sie sich um diese Bücher stritten.
Im Aufenthaltsraum saß eine Frau in einem Rollstuhl und schaute aus dem großen Fenster, dessen Vorhänge halb zugezogen waren. Man sah den Kirchturm weiter unten in der Straße, den sie unverwandt anstarrte. Óðinn hatte den Unterlagen entnommen, dass das Heimleiterehepaar von Krókur sehr gläubig gewesen war, aber das musste ja nicht mehr so sein.
Das Gesicht der Frau ließ nicht erkennen, wie sie in jüngeren Jahren ausgesehen hatte, sie war vom Alter gezeichnet, und ihre fahle Haut war von tiefen Falten durchzogen. Ihre fleckige Kopfhaut schien durch ihr weißes Haar. Aus dem Ärmel ihrer im Knötchenmuster gestrickten Jacke ragte eine ädrige Hand mit krummen Fingern. Als sie sich zu ihm drehte, waren ihre Augen wässrig und verschleiert.
»Ihr habt ja keine Ahnung, ihr modernen Leute.«
»Äh, nein, kann sein«, sagte Óðinn und presste ein höfliches Lächeln hervor. »Sind Sie Lilja?«
Die Frau antwortete nicht und wetterte einfach weiter:
»Diese gottvergessene Nation muss jetzt richtig in den Staub beißen.«
Sie schaute ihn mit Missfallen an.
»Das würde ich so nicht sagen«, entgegnete Óðinn. Aus dem Flur hörte man das Klappern von Tellern. Das Mittagessen war gerade vorbei, und Óðinn hatte sich an einem riesigen Stahlwagen vorbeiquetschen müssen, auf dem die Mitarbeiter die Essenstabletts einsammelten. »Ich heiße Óðinn und arbeite an einem Bericht über das Erziehungsheim Krókur.«
»Ich weiß. Was ist mit der Frau passiert?«
»Welche Frau?«
»Die hier war. Sie hat auch gesagt, sie würde einen Bericht schreiben. Wer schreibt denn noch alles an dem Bericht?«
»Ich habe das Projekt von Róberta nach ihrem Tod übernommen.«
Die Frau reagierte nicht auf die Neuigkeit. Der Tod war an diesem Ort etwas Alltägliches, worüber man nicht viel Aufhebens machte.
»Macht nichts, ich spreche sowieso lieber mit einem Mann. Aber stellen Sie mir bloß nicht dieselben Fragen, mein Lieber. Das ist furchtbar langweilig.«
»Die Fragen werden sich schon ein bisschen wiederholen, bitte haben Sie Verständnis dafür«, bat Óðinn.
Die Frau schnaubte.
»Was ist das für eine Stümperei bei dieser gottvergessenen Behörde!«
Óðinn zog einen schweren Sessel aus der Couchgarnitur heran und stellte ihn der Frau gegenüber. Aus Angst vor ihrer Reaktion wollte er ihren Rollstuhl nicht drehen. Dann setzte er sich und holte seine Papiere heraus.
»Ich weiß nicht, ob Sie damals die Berichterstattung über Breiðavík und die anderen Heime mitverfolgt haben«, setzte er an.
»Dummes Gewäsch«, schimpfte sie nur, wandte sich von ihm ab und starrte
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