Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
und Angst.
Als sie anfing, die Briefe zu lesen, sah sie, dass die Herzchen auf den Umschlägen einem bestimmten System folgten. Wenn ein Pfeil durch das Herz stach, war die Schreiberin besinnungslos vor Liebe, und ein zerbrochener Pfeil bedeutete, dass sie tieftraurig oder rasend vor Wut war. Die Briefe mit durchgebrochenen Herzen häuften sich, und die letzten vier waren alle so markiert.
Aldís vergaß beim Lesen Raum und Zeit. Neugier, Eifersucht und Verständnislosigkeit vertrieben ihre Angst vor der Dunkelheit. Eyjalín gestand Einar wortreich ihre Liebe, fragte jedoch im Lauf der Zeit immer öfter, warum er ihr nicht antworte und ob er sie wirklich schon vergessen habe. Sie erwähnte oft ihren Vater, schrieb entweder, er hasse sie, oder sie versuche, ihn zu überreden, Einar zu verzeihen. Wenn er das nicht täte, sollten sie gemeinsam abhauen, nach Nordisland oder sogar ins Ausland. Amerika gefiel ihr in diesem Zusammenhang am besten, sie schrieb von einer Reise nach New York mit ihren Eltern vor ein paar Jahren. Dort könnten sie heiraten und leben, ohne dass ihre Eltern sich einmischten. Sie bekämen zwar keine Kinder, aber sie wolle ohnehin keine haben und er auch nicht. Das war eine Feststellung, keine Frage, und Aldís ging davon aus, dass sie bereits über ihre gemeinsame Zukunft gesprochen hatten. An einer anderen Stelle schrieb sie jedoch, sie wolle Kinder mit ihm haben – die Zukunftspläne schienen sich also von Tag zu Tag zu ändern. Ihre Mutter erwähnte sie nur einmal und schrieb, die Alte könne ihr immer noch nicht in die Augen schauen. Dazwischen standen kurze, unverständliche Sätze über ihren gesundheitlichen Zustand, als hätten sie sich in ihr Bewusstsein gezwängt. Es gab keine Erklärung, welche Krankheit sie meinte oder ob sie Schmerzen hätte. Der Arzt hat gesagt, ich habe Glück gehabt. Es blutet immer noch. Mir ist so schlecht. Die Schmerztabletten machen mich ganz dumpf. Sie wollen, dass ich wieder ins Krankenhaus gehe.
Leider gab es in Eyjalíns Briefen keine Hinweise auf Einars Vergehen. Aldís legte sie zurück in die Kiste und mischte sie kurz durch, damit es nicht zu offensichtlich war, dass jemand die Post durchgesehen hatte. Energisch schüttelte sie die Kiste, wütend, nicht die Erklärungen bekommen zu haben, die sie sich erhofft hatte. Doch ihre Wut verflog, als sie die Kiste zugemacht hatte, das Rascheln des Papiers verklungen und Stille eingekehrt war. Jetzt spürte Aldís wieder die bedrückende Umgebung. Die Kerze hatte angefangen zu rußen, und sie hätte den langen Docht abschneiden müssen. Wobei ihr der dunkle Qualm egal war, solange die Kerze brannte. Als sie mit der Kiste unter dem Arm und der Kerze in der Hand aufstehen wollte, fiel ihr Blick auf einen Brief, der aus dem Stapel gerutscht und neben ihr auf der Stufe gelandet war. Der blaue Umschlag war leicht erkennbar. Darauf befand sich ein stürmisch durchgestrichenes Herz. Aldís stellte die Kiste ab und öffnete den Brief.
Wer ist diese Schlampe? Ich habe euch zusammen gesehen! Das werde ich dir nie verzeihen, ich dachte, du liebst mich. Wie konntest du sie mir nur vorziehen? Sie ist ungepflegt, hässlich angezogen und dämlich. Ihr fieser blonder Pferdeschwanz ist total struppig, und sie hat bestimmt Läuse. Sie hat noch nicht mal ein Haargummi und bindet sich die Haare mit einem Schnürsenkel zusammen! Und diesen ekelhaften lila Pulli hat sie bestimmt von der Winterhilfe. Sie ist eine Schlampe!
Aldís blickte auf und starrte über den Kerzenschein hinweg in die Dunkelheit. Sie besaß einen lila Pulli, der ziemlich verschlissen war. Aber es war gemein, zu behaupten, er sei von einer Wohltätigkeitsorganisation. Sie trug einen Pferdeschwanz. Und hatte einmal einen Schnürsenkel benutzt, als sie ihr Haargummi nicht gefunden hatte. Aldís war so verletzt, dass ihr die Tränen kamen. Ihre Mutter hatte ihr mal gesagt, dass man, wenn man andere belauscht, nur selten etwas Nettes über sich hört. Sie war nicht elegant, das wusste sie. Sie war auch nicht cool, und Mädchen aus besseren Verhältnissen hielten sie bestimmt für eine Schlampe. Sie würde nie Stewardess werden. Aldís nahm den Brief wieder in die Hand und zwang sich, die letzten Zeilen zu lesen. Doch sie kam nicht weit.
Wenn du noch mal mit ihr sprichst, bringe ich sie um, Einar. Du bist es mir schuldig, mich zu lieben! Papa sagt, dass mich jetzt vielleicht keiner mehr heiraten will. Also musst du es machen. Oder ich bringe sie um.
In der
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