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Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Titel: Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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sie zusammengefaltet hatte, damit man es in einen Umschlag stecken konnte. »Aber ich weiß nicht, was ich am besten damit mache, damit Mama es lesen kann.«
    Sie schaute ihn an, und er war erstaunt, wie unglaublich ähnlich sie ihrer Mutter sah. Er nahm den Brief und spürte das Papier zwischen seinen Finger unangenehm intensiv. Vielleicht stand etwas darin, das die ganze Geschichte erhellen würde. Diese Vorstellung überzeugte ihn endgültig davon, dass er gar nicht alles wissen wollte, dass er das Schlimmste nicht bestätigt bekommen wollte, selbst wenn das bedeutete, dass er weiterhin Wahrnehmungsstörungen hätte.
    »Ich glaube, ich weiß, was wir damit machen«, sagte er und lächelte seine Tochter dumpf an. »Wir verbrennen den Brief. Dann kann der Rauch den Inhalt zu Mama in den Himmel bringen. Dann hören deine Albträume auf, und alles wird gut. Das spüre ich.«
    Rún erwiderte sein Lächeln, und sie gingen gemeinsam auf den Balkon. Óðinn klappte den Grill auf, legte den Brief vorsichtig hinein und schirmte ihn vor dem Wind ab. Dann legte er einen Grillanzünder auf das weiße Papier und zündete ihn an. Stumm beobachteten sie das Feuer, das sich in das Blatt fraß, bis es zusammenschrumpfte. Rún schaute zu, wie der Rauch zum Himmel aufstieg und in der Dunkelheit verschwand.
    »Fühlst du dich jetzt besser?«
    »Ja, viel besser«, antwortete sie lächelnd. »Viel, viel besser. Jetzt ist Mama nicht mehr böse.«
    »Bestimmt nicht.«
    Sie gingen wieder hinein ins Warme, und Óðinn bemerkte, dass Rún beschwingter lief und sich viel ungezwungener verhielt. Wenn es bei ihm doch nur genauso wäre. Doch er ging mit schleppenden Schritten ins Wohnzimmer. Als sich der Brief im Feuer zusammengekrumpelt hatte, konnte er eine halbe Zeile lesen:  … bitte verzeih Papa, er hat das nicht mit Absicht gemacht …

25. Kapitel
    Februar 1974
    Die Nacht war genauso schön wie der Sonnenuntergang. Zwischen den Wolken war der schwarze Himmel mit blitzenden Sternen besetzt, und obwohl erst Halbmond war, wurde Aldís’ Weg im Schnee beleuchtet. In der Grundschule hatte ihr Lehrer der Klasse erzählt, früher hätten die Leute geglaubt, der Himmel sei eine Decke, die das Himmelreich und die Erde voneinander trenne, und die Sterne seien Löcher in der Decke, durch die das silbrige, göttliche Licht der Glückseligkeit leuchte. Aldís hatte fasziniert gelauscht, am Ende der Geschichte aufgezeigt und gefragt, warum Gott die Engel nicht die Löcher stopfen lassen würde. Ihre Mama könne das, und es gäbe doch bestimmt lauter Mamas im Himmel, die dabei helfen könnten. Darauf hatten ihre Klassenkameraden gekichert, der Lehrer gutmütig gelächelt und gesagt, vielleicht seien die Löcher ja dort, damit wir auf der Erde wüssten, wie hell und schön es bei Gott sei. Niemand käme aus dem Himmel zurück und deshalb sei das vielleicht der einzige Weg, um uns Menschen die Pracht des Himmelreichs zu zeigen. Aldís fand, es sei an der Zeit, dass Gott der Erde ein bisschen mehr von dieser Pracht spendierte.
    In der frostigen Stille stieß sie weiße Atemwölkchen aus, der Schnee knirschte unter ihren Füßen, und sie ging ganz langsam, weil sie befürchtete, jemand könne wach bliegen und sie hören. Sie machte sich in erster Linie Sorgen wegen Veigar, dass er sich hinter der Gardine in seinem Schlafzimmer versteckte, um dem Mädchen aufzulauern, das sich seiner Ansicht nach nachts auf dem Hof herumtrieb. Aldís’ Blick wanderte immer wieder zum Hausgiebel, wo das Fenster sie anglotzte, und sie konnte die weiße Gardine nicht aus dem Auge lassen. Sie stellte sich vor, dass er im Dunkeln in dem großen, schweren Stuhl saß, der sich beim Putzen so schwer wegschieben ließ, und sie mit seinen zusammengekniffenen Schweinsäuglein anstarrte. Wenn er sie jetzt erwischte, würde ihr niemand mehr glauben, dass sie nachts immer in ihrem Zimmer gewesen war. Aldís schlang die Arme um ihren Oberkörper, obwohl sie wusste, dass die Kälte, die sie jetzt durchfuhr, von innen und nicht von außen kam. Sie schärfte sich ein, nicht zu Liljas und Veigars Haus zurückzuschauen, sondern den Blick auf ihr Ziel zu richten; der Weg war nicht mehr weit und doch unheimlich lang. Warum nahm sie ihn überhaupt auf sich, alleine mit den Sternen? Weil sie nichts dringender haben wollte als die Briefe aus dem düsteren Keller.
    Eigentlich sollte sie Tobbi dankbar sein, war aber wütend auf ihn. Sie wusste, dass sie sich eher über sich selbst ärgern sollte,

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