Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
wieder nach oben und nach draußen zu kommen, war so übermächtig, dass sie sich beeilen musste. Die Kiste in dem Regal war schnell gefunden, zwischen Glühbirnen, Waschmittel und Klopapier. Es war beruhigend, diese alltäglichen Dinge zu betrachten, die selbst in dem flackernden Licht nicht bedrohlich wirkten. Aldís zog die Kiste zu sich und versuchte gleichzeitig, die Kerze festzuhalten. Sie wollte ihre eigenen Briefe mitnehmen und die an Einar sofort vor Ort lesen. Das wirkte irgendwie besser: Sie zu lesen war nur halb so schlimm, wie sie zu stehlen.
Aldís legte die Briefe, die nicht an sie oder Einar adressiert waren, auf die Treppenstufen. Angesichts der Anzahl der Jungen waren es merkwürdig wenige. Vielleicht verbarg sich noch eine zweite Kiste mit älterer Korrespondenz anderswo im Keller, oder die Jungen wurden zu Hause einfach nicht besonders vermisst. Einigen Briefen sah man an, dass sie auf Paketen geklebt hatten, doch die waren nirgends zu sehen. Es war wirklich unfassbar, dass Lilja und Veigar es fertigbrachten, den Jungen Süßigkeiten und andere Kleinigkeiten vorzuenthalten.
Aldís fand mehrere Umschläge mit der Schrift ihrer Mutter und wurde jedes Mal wütend, wenn sie sah, dass sie geöffnet worden waren. Sie stopfte sie in ihre Jackentasche und wandte sich dann Einars Briefen zu, sortierte sie chronologisch, obwohl die Poststempel ziemlich verblichen waren. Kein Brief war datiert, als sei ihr Inhalt zeitlos.
Der erste Brief war von Einars Mutter, ebenso wie der letzte. In dem älteren schrieb sie, wie sehr sie ihren Sohn vermisse und machte Andeutungen auf »das, was ihr gemacht habt«, ohne genau zu sagen, was und wer damit gemeint war. Sie schrieb, die Zeit heile alle Wunden und Einar solle nicht zu viel daran denken und sich kein schlechtes Gewissen machen, damit seine Seele keinen Schaden nähme. Aldís hob die Augenbrauen. Einar wirkte auf sie ganz und gar nicht wie ein reuiger Sünder. Wenn seine Taten ihm zu schaffen machten, konnte er das zumindest gut verbergen. Vielleicht lag er ja manchmal nachts wach, aber im Allgemeinen schien er seine Vergangenheit gut verdrängen zu können. Aldís’ Neugier wurde beim Lesen immer größer, und sie überflog den letzten Brief seiner Mutter, ohne daraus schlauer zu werden. Sie schrieb, sie habe versucht, ihm etwas ausrichten zu lassen, wisse aber nicht, ob es bei ihm angekommen sei. Aldís spürte einen Stich im Bauch, als sie das las. Sie wusste, dass Veigar oder Lilja diesen Brief gelesen hatte, aber die Formulierung war so vage, dass damit jeder hätte gemeint sein können, selbst ein städtischer Beamter in Reykjavík. Dennoch las sie den Satz mehrmals, bis sie sicher war, dass man keine Verbindung zu ihr herstellen konnte. Das meiste andere in dem Brief war uninteressant – Klagen, wie sehr sie ihren Sohn vermisse und wie stolz sie sei, dass er diese Entscheidung getroffen habe. Welche Entscheidung schrieb sie nicht, nur ein paar Worte darüber, dass er dadurch seinen guten Ruf und seine Zukunft gerettet habe.
Verärgert, dass seine Mutter sich nicht klar genug ausdrückte, nahm Aldís die anderen Briefe an Einar in die Hand. Sie waren in einer ganz anderen, mädchenhaften Handschrift geschrieben, und Aldís stutzte. Sie strich über die Worte und überlegte, ob sie vielleicht von seiner Schwester waren, wusste aber, dass das nicht sein konnte. Keine Schwester schenkte ihrem Bruder so viel Aufmerksamkeit: Es gab fast zehn Briefe, und Einar war noch gar nicht so lange in Krókur. Zudem waren die Umschläge in der Ecke mit einem Herzchen verziert. Die Absenderin hatte blaues Briefpapier und dazu passende Umschläge verwendet. Viel edler als die anderen Briefe in der Kiste. Die waren bestimmt aus dem Ausland. Aus Kopenhagen, Paris oder London. Aldís spürte, wie Neid in ihr hochkochte.
Die Briefe stammten alle von einem Mädchen namens Eyjalín. Sie schrieb ihren Namen mit einem Herz anstelle eines Akzents über dem i. Eyjalín war ein viel schönerer Name als Aldís, ungewöhnlich und exotisch. Aldís dachte an das hübsche Mädchen auf dem Foto in Einars Brieftasche. Das musste sie sein. Der Name passte gut zu ihrer außergewöhnlichen Schönheit. Aldís schnupperte an dem ersten Brief, den sie herausgefischt hatte, roch aber anstatt des erwarteten Parfüms nur den modrigen Kellergeruch. Obwohl der Geruch ekelhaft war, verspürte sie eine freudige Neugier – ein völlig neues Gefühl und eine schöne Abwechslung zu der ewigen Wut
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