Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Weibsbild?«, fragte Óðinn. Auf der Liste standen nur Männer. »Wissen Sie noch, wie sie hieß?«
»Nein, ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich alle Namen durcheinanderbringe. Sie war eine miese Schlampe.«
»Das hilft mir nicht wirklich.«
Óðinn schaffte es nicht, Lilja den Namen zu entlocken, bekam nur weitere Verunglimpfungen über die ehemalige Mitarbeiterin zu hören. Er wollte ihr nicht den Gefallen tun zu fragen, warum das Mädchen in ihren Augen eine Schlampe gewesen sei, gab schließlich auf und lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema.
Er fragte, wie man mit den Jungen umgegangen sei, womit sie beschäftigt worden seien, was sie zu essen bekommen hätten und wie man im Allgemeinen auf ihre Bedürfnisse eingegangen sei. Lilja gab zwar weiterhin ungehobelte Antworten, aber er konnte ihr immerhin ein paar grundlegende Informationen entlocken. Ihrer Aussage nach waren je nach Bedarf und in angemessenem Umfang Strafen erteilt worden, und nach langem Hin und Her stellte sich schließlich heraus, dass die Jungen sowohl körperlich als auch psychisch bestraft worden waren, indem man sie beispielsweise in ein dunkles Zimmer einsperrte oder sie die Toiletten putzen ließ. Óðinn hatte einen üblen Geschmack im Mund. In seiner Jugend hatte er natürlich auch schon mal etwas angestellt und war von seinen Eltern gemaßregelt worden. Doch obwohl sie manchmal sehr wütend gewesen waren, hatten sie seinen Bruder und ihn nie geschlagen oder erniedrigt. Sie waren ausgeschimpft worden, und ihre Eltern hatten ihnen bestimmte Dinge verboten, damit sie aus ihren Fehlern lernten. Das hatte gereicht, um sie anständig großzuziehen. Óðinn war froh, dass er die Zucht und Ordnung, die Lilja beschrieb, nicht hatte erleben müssen, und es war bestimmt besonders schwer, wenn man sich dabei auch noch bei Fremden aufhielt – kein Mitleid, keine Zuneigung oder Wärme, niemand, der einen in den Arm nahm.
»Der Betrieb scheint sich nicht rentiert zu haben. Haben Sie das Grundstück deshalb verkauft?«, fragte er möglichst vorsichtig.
Das Heim war in rasantem Tempo auf die Pleite zugesteuert, und Finanzsorgen brachten erfahrungsgemäß nicht unbedingt die besten Seiten der Menschen zum Vorschein. Vielleicht lag darin der Grund für die Strenge des Ehepaars, die ihm die ehemaligen Mitarbeiter geschildert hatten.
»Was reden Sie denn da für einen Unsinn?«, fragte die Frau empört. »Nicht rentiert! Das habe ich ja noch nie gehört.«
»Warum haben Sie das Heim denn dann aufgegeben?«
Zum ersten Mal, seit Óðinn sich gesetzt hatte, wirkte die Frau leicht erschüttert.
»Veigar wurde in Reykjavík ein guter Job angeboten. Bei der Stadt. Wir haben das Grundstück verkauft, aber der Käufer wollte traditionelle Landwirtschaft betreiben und das Heim nicht weiterführen, deshalb wurden die Jungen verlegt. Oder nach Hause geschickt.«
»Sie sind also nicht gezwungen worden zu schließen?«
»Schließen?« Liljas Kopf begann wieder zu wackeln. »Dachten Sie das etwa? Dass unsere Arbeit nicht für gut befunden wurde und wir deshalb schließen mussten? Keineswegs. Sie haben uns angefleht, weiterzumachen, aber wir hatten genug. Wir wollten zurück in die Stadt und haben es nicht bereut.«
»Verstehe. Ich dachte, der Tod der beiden Jungen hätte vielleicht eine Rolle gespielt. Die Behörden waren doch bestimmt nicht erfreut über den Vorfall.«
»Um die war es nicht schade. Vor allem nicht um den Älteren, der andere war ein armer Kerl, der war weniger schlimm.«
Óðinn vertiefte sich in seine Papiere, damit Lilja seinen verächtlichen Gesichtsausdruck nicht sah. War sie völlig emotionslos, oder tat sie nur so? Die Abwehr einer alten Frau gegen ein System, das sich gegen sie gewandt hatte? Die paar ehemaligen Heimbewohner, mit denen Óðinn gesprochen hatte, hatten erzählt, das Ehepaar sei herzlos gewesen, aber wie glaubwürdig waren diese Aussagen?
»Wie ist es denn passiert? Hätten Veigar und Sie es irgendwie verhindern können?«, fragte er.
»Sie sind ja noch schlimmer als die Frau, die vor Ihnen hier war.«
»Ach ja?«
»Die hat ganz andere Fragen gestellt.«
»Was hat sie denn gefragt?«
»Vor allem über den Jungen, der gestorben ist, den älteren. Wie hieß der noch mal?«, fragte sie und schaute Óðinn hilfesuchend an.
»Wenn Sie den älteren meine, der hieß Einar. Einar Allen.«
»Ausländisches Blut. Das hatte ich ganz vergessen. Das hat zweifellos seinen Einfluss gehabt.«
»Wenn Sie meinen … Was
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