Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Eisengeschmack und dem Schmerz in ihrer Lippe gelang es ihr trotz aller Hektik, den Raum zu betreten und leise die Tür hinter sich zuzuziehen. Dann blies sie die Kerze aus und schloss die Augen. Es war beruhigend, sich vorzustellen, von Helligkeit umgeben anstatt im Stockdunkeln in einer Kammer eingesperrt zu sein, wo sie auf ihr Schicksal harren musste.
Aldís hatte sich nicht die Zeit gelassen, sich im Schein der Kerze in der Kammer umzuschauen, und traute sich kaum, sich zu rühren. Vielleicht war der Raum voller Einmachgläser, die mit einem Riesenlärm umfallen und zerbrechen würden, wenn sie dagegenstieß. Aldís stand wie angewurzelt da und lauschte auf den unbekannten Besucher, während sie im Stillen betete, er möge weggehen. Bemerkenswert, wie sich der Glaube bemerkbar machte, wenn alles im Argen lag. Normalerweise dachte Aldís nicht viel an Gott, war aber froh, ihn zu haben, wenn sie keinen Ausweg mehr sah. Sie wusste, dass es ziemlich unverfroren war, davon auszugehen, dass der Allmächtige auf einen Hilferuf von ihr wartete, stets zur Rettung bereit – wie ein Verbandskasten, der verstaubte, solange sich niemand verletzte, und erst hervorgeholt wurde, wenn ein Unfall geschah. Und dann stellte sich heraus, dass man vergessen hatte, ihn aufzufüllen.
Aldís stockte der Atem, als sie die Kellerluke quietschen hörte. Erst als ihre Lungen kurz vorm Zerplatzen waren, stieß sie die Luft aus und atmete wieder ein. Sie kämpfte mit dem Drang, von der Tür zurückzuweichen, als wäre die Dunkelheit ganz hinten in der Kammer sicherer, blieb aber still stehen und konzentrierte sich darauf, gleichmäßig zu atmen, was sie ein wenig beruhigte. Dann legte sie ihr Ohr an die Tür und erstarrte, als sie die Holzbohlen der Treppe unter dem Gewicht eines Menschen knarren hörte. Sie war froh, in der Kammer zu sein, als sie unter der Tür und durch das Schlüsselloch einen Lichtschein sah. Das Licht war unstet, und Aldís nahm an, dass es von einer Taschenlampe und nicht von der Deckenlampe kam. Es handelte sich also nicht um Lilja oder Veigar, sondern um jemanden, der im Keller etwas suchte – genau wie sie.
Das Licht, das durch das Schlüsselloch drang, beleuchtete einen kleinen Fleck auf ihrem Jackenärmel. Instinktiv wünschte sie sich, beim Kauf eine hellere Jackenfarbe gewählt zu haben, vielleicht, weil es in der undurchdringlichen Dunkelheit ermunternder gewesen wäre, gelb oder rot zu sehen anstatt dunkelblau. Aldís kniete sich vorsichtig vor die Tür, jeder Nerv angespannt, aus Angst, gegen etwas zu stoßen. Doch nichts geschah, und sie konnte mit dem rechten Auge durch das Schlüsselloch schauen. Ihr Blickfeld war eingeschränkt, aber besser als nichts. Ihre Knie schmerzten auf dem groben Steinboden, doch der Schmerz war angenehm alltäglich, so wie vorhin das Brennen ihrer Lippe. Selbst der feuchte, kalte Boden war wohltuend.
Der Schein der Taschenlampe wurde systematisch durch den Keller gelenkt. Er leuchtete auf und verschwand wieder, aber Aldís konnte immer etwas Licht sehen. Der Fremde war durch das Schlüsselloch nicht zu erkennen. Wenn sie doch nur einen Blick auf einen Schuh, eine Haarsträhne oder ein Hosenbein erhaschen könnte, dann wüsste sie vielleicht, wer es war. Nach der vielen Wascherei kannte sie die Anziehsachen der Jungen genauso gut wie ihre eigenen. Wenn es einer von ihnen war, würde sie sofort hinausstürmen, ihn zu Tode erschrecken und ordentlich Dampf ablassen. Es sei denn, es war Einar. Aldís hatte keine Ahnung, was sie dann machen würde. Wahrscheinlich die Augen schließen und hoffen, dass er sie nicht entdeckte.
In der letzten Zeit war sie ihm aus dem Weg gegangen, und die paarmal, die er es in den vergangenen zwei Wochen geschafft hatte, sie beiseitezunehmen, hatte sie so getan, als sei nichts geschehen, und behauptet, sie lerne fleißig Englisch und könne abends nicht weg. Die Lüge über die bevorstehende Aufnahmeprüfung und das Vorstellungsgespräch für einen Job als Stewardess bei Icelandair war ihr so glatt über die Lippen gekommen, dass sie sie fast selbst glaubte. Doch trotz ihrer Überzeugungskraft merkte Einar, dass sie ihn mied. Gott sei Dank hatte er ihr keine Fragen auf Englisch gestellt, sie hatte das Buch nämlich seit Wochen nicht mehr aufgeschlagen.
Am anderen Ende des Kellers sah sie eine Gestalt vor der Treppe und verfluchte sich, nicht einen Moment früher durch das Schlüsselloch geschaut zu haben. Dann hätte sie die Person beim
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