Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
wackelte immer heftiger, so dass sie Óðinn kaum in die Augen schauen konnte.
»Nein, nein, nein.«
Er glaubte ihr nicht. Doch je mehr er versuchte, sie zum Reden zu bringen, desto verstockter wurde sie. Außerdem merkte er, dass sie langsam müde wurde. Sie kauerte in ihrem Rollstuhl und war schon ganz heiser.
»Manche kriegen alles und schmeißen es einfach weg, und andere müssen sich mit ihren Sehnsüchten abfinden«, krächzte sie.
Óðinn versuchte vergeblich, ihr eine genauere Erklärung zu entlocken. Schließlich stand er auf, verabschiedete sich und sagte, er werde eine Mitarbeiterin bitten, sie zu holen. Im Flur begegnete er derselben Krankenschwester, die ihn empfangen hatte und jetzt nicht mehr ganz so gestresst wirkte.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte sie und lächelte ihm verschwörerisch zu. »Sie ist ja nicht gerade zugänglich. Tagsüber ist sie anstrengend und nachts schreit sie immer nach einem Kind, das niemand kennt. Wenn wir nicht solchen Druck hätten, alle Betten zu belegen, wäre sie längst in einem Einzelzimmer. Aber so ist das nun mal.«
Sie ging weiter durch den Flur und Óðinn Richtung Ausgang. Als er gerade bei der Tür angelangt war, kam ihm die Krankenschwester hinterhergelaufen.
»Lilja will Ihnen noch etwas sagen, könnten Sie noch mal kurz kommen?«, sagte sie.
Obwohl Óðinn so schnell wie möglich an die frische Luft wollte, ließ er sich darauf ein.
»Mir ist eingefallen, wie sie hieß. Das junge Mädel«, sagte Lilja, und ihre wasserblauen Augen starrten Óðinn direkt ins Gesicht. »Sie hieß Aldís.«
»Aldís?« Óðinn hatte das starke Bedürfnis, sich zu räuspern, konnte sich aber zurückhalten. »Wissen Sie noch ihren Nachnamen?«
»Aldís Anna Agnarsdóttir. Drei A hintereinander. Deshalb ist es mir eingefallen.«
Óðinn nickte und ging grußlos zum Ausgang. Er schaffte es einfach nicht. Aldís Anna Agnarsdóttir kannte er nur zu gut.
27. Kapitel
Februar 1974
Aldís pustete instinktiv die Kerze aus. Alles wurde finster. Sie wollte niemandem begegnen und auf gar keinen Fall entdeckt werden, wer auch immer dort oben herumlief. Deshalb war die Dunkelheit ihr bester Freund. Während sie auf der Treppe saß, lauschte sie den näher kommenden Schritten über sich. Ihr Herz hämmerte, und ihr Atem ging schneller. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie völlig ausgeliefert wäre, wenn das Licht im Keller anginge. Sie tastete nach den Streichhölzern in ihrer Tasche, um sich ein besseres Versteck suchen zu können, hielt aber plötzlich inne. Vielleicht war dieser unbekannte Besucher gar nicht auf dem Weg zu ihr in den Keller, und dann würde die Kerze sie verraten. Auch wenn die rußende Kerze nicht viel Licht gab, würde man ihren Schein bestimmt durch den Spalt der Kellerluke sehen. Aber immer noch besser, als im Keller herumzustolpern und etwas umzuschmeißen.
In ihrer Tasche stieß Aldís zuerst auf ein Bonbonpapier, das sie noch nicht weggeworfen hatte. Es knisterte unerträglich laut, und auch das Streichholz machte beim Anzünden ohrenbetäubenden Lärm. Der Schein der Kerze wirkte jetzt unverhältnismäßig grell, ganz anders als vorher. Aldís stand vorsichtig auf und überlegte, was sie mit der Kiste auf der Treppenstufe machen sollte. Wenn jemand einen Blick in den Keller warf, würde er sofort merken, dass sich dort jemand herumtrieb, und wenn sie versuchte, die Kiste wegzustellen, würde man den Lärm oben hören. Aldís ließ sie lieber stehen und machte sie nur vorsichtig zu.
Auf einmal fand sie die Feuchtigkeit in der Luft erdrückend. Die Kerze warf flackernde Schatten durch den ganzen Keller, und Aldís spähte verzweifelt nach einem passenden Versteck. Sie hätte sich zwar leicht hinter Autoreifen oder Kartons oder einem Bretterstapel verstecken können, aber dann musste nur jemand daran vorbeigehen, um sie zu entdecken. Die Hoffnung, einen guten Platz zu finden, schwand, je weiter sie in den Keller hineinging, doch dann fiel ihr Blick auf eine kleine Tür ganz hinten. Die Schritte und das Knarren über ihr gaben zu erkennen, dass sich die Person unmittelbar über der Kellerluke befand. Aldís steuerte auf die kleine Tür zu, sie hatte keine Zeit, über Alternativen nachzudenken oder darüber, was sie machen würde, wenn die Tür abgeschlossen wäre. Als sie nach der Türklinke griff, biss sie sich auf die Lippe und hatte einen schalen Blutgeschmack im Mund. Erleichtert atmete sie auf, als sich die Tür öffnen ließ. Angetrieben von dem
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