Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
wollte Róberta denn über ihn wissen?«
»Die hat einen ja nur so mit Fragen bombardiert. Ich weiß nicht mehr genau, was alles.« Lilja ließ den Kopf hängen und sackte in sich zusammen. »Manche bekommen alles in die Wiege gelegt, sind die Undankbarkeit in Person und machen Dinge, die unverzeihlich sind. Andere rackern sich ab und bekommen nichts geschenkt. Gott prüft uns auf verschiedenste Weise. Manchmal versteht man seine Absichten nicht.«
Óðinn atmete tief ein. Er begriff überhaupt nichts mehr. Sie konnte doch nicht Einar meinen? Er war der Sohn einer alleinerziehenden Mutter und hatte bestimmt nichts geschenkt bekommen. Und sie konnte auch nicht Róberta meinen.
»Haben Sie E-Mail?«
Die Frage war absurd, aber Óðinn musste sie trotzdem stellen. Lilja war genau der Typ, der auf die Idee käme, Drohbriefe zu schicken. Und sie hatte das größte Interesse an einer Einstellung der Untersuchung. Eigentlich war sie die Einzige, die überhaupt ein Interesse daran hatte.
»E-Mail? Nein, mein Lieber. Ich habe keinen Computer, noch nie gehabt. Warum sollte ich mir E-Mail anschaffen, ich bekomme ja kaum noch Briefe, geschweige denn sonst irgendwelche Post. Ich glaube, ich habe noch nicht mal eine eigene Adresse.«
»Fällt Ihnen jemand ein, der die Untersuchung stoppen will?«
»Der Träger der Gerechtigkeit.«
»Der Träger der Gerechtigkeit?«
»Ja. Gott würde sie stoppen wollen. Und ich. Sonst niemand, glaube ich. Das sind alles gottvergessene Jämmerlinge.«
Lilja warf den Kopf in den Nacken, und ihr Bein rutschte auf den Boden, so dass ihr dicker, dunkelbrauner Nylonstrumpf zum Vorschein kam. Ihre Wade schien mit den Jahren nach unten gesackt zu sein und ihren Knöchel geschluckt zu haben. Óðinn wandte seinen Blick ab.
»Sonst niemand?«, fragte er. Lilja antwortete nicht, und er lenkte das Gespräch wieder auf die beiden Jungen: »Sie haben die Frage nach Einars und Tobbis Tod noch nicht beantwortet. Was sagen Sie dazu?«
»Der eine hatte ihn verdient, der andere wurde mit reingezogen.«
»Wollen Sie damit sagen, dass es kein Unfall war?«
»Es gibt keine Zufälle. Gott bestimmt unser Schicksal. Und Gottes Wege sind unergründlich.«
»Was ist denn genau passiert?« Óðinn war kein Atheist, fand es aber befremdlich, über Gott wie über einen ganz normalen Menschen zu sprechen. »Wenn wir Gott mal außer Acht lassen.«
»Sie sind spätabends entwischt. Veigar hatte den Verdacht, dass sich nachts jemand draußen auf dem Gelände herumtreibt, und vermutet, es sei ein Mädchen. Diese Schlampe. Wahrscheinlich war es Einar, aber in der Nacht, als er starb, war der Kleine mit dabei. Der hatte sich allerdings schon mal mitten in der Nacht rausgeschlichen, es kann also gut sein, dass die beiden das nicht nur an diesem Abend gemacht haben. Es war jedenfalls ihr letzter.«
»Konnten die Jungen nachts einfach so raus? Gab es keine Nachtwache?«
»Was denken Sie denn? Meinen Sie etwa, wir wären im Geld geschwommen? Wir haben sie nachts eingesperrt, aber sie hatten die Vergitterung am Fenster aufgekriegt. Veigar hat das später zusammen mit der Polizei entdeckt. Sie haben es so gemacht, dass man es nicht sehen konnte, außer vielleicht beim Putzen, aber das Weibsbild hat es nicht gemeldet. Nach der Geschichte haben wir sie gefeuert.«
»Die beiden haben sich also rausgeschlichen, aber wozu? Und was haben sie in dem Wagen gemacht, und warum lief der Motor? Woher hatten sie den Schlüssel?«
»Ich habe nicht auf alles eine Antwort, falls Sie das meinen. Der Schlüssel steckte im Zündschloss. Veigar hat ihn immer dringelassen. Damals gab es in Island nur Isländer. Die stehlen nicht anderer Leute Autos.«
Óðinn öffnete den Mund, um zu protestieren, ließ es aber bleiben. Die Frau war einfach unverbesserlich.
»Vielleicht wollten sie abhauen, in die Stadt fahren. Oder sich nur aufwärmen. Das weiß niemand, und es spielt auch keine Rolle. Das Auspuffrohr war mit Schnee verstopft, und die Abgase wurden in den Wagen geleitet. Sie sind einfach erstickt«, fuhr sie fort und schaute Óðinn verkniffen an. »Als man sie entdeckt hat, lagen sie hinten im Wagen auf dem Boden. Blau angelaufen. Als würden sie schlafen.«
Das passte überhaupt nicht zu der Theorie, dass sie in die Stadt fahren wollten, denn dann wären sie auf den Vordersitzen gefunden worden.
»Ich habe gehört, der Auspuff sei gar nicht mit Schnee verstopft gewesen, sondern mit einem Lappen. Ist da was dran?«
Der Kopf der Frau
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