Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
umsonst gewesen. Die Jungen verschlangen ihr Essen, als ginge es um eine Wette, und als sie fertig waren, sah es aus, als hätte eine Herde Affen am Tisch gesessen. Das Besteck lag wild durcheinander, mehrere schmutzige Gläser standen auf dem Kopf, und die Tischdecke war mit Fettspritzern übersät. Dennoch war Aldís nicht sauer oder beleidigt – so waren sie nun mal. Die Jungen aßen, weil sie Hunger hatten, und sahen keinen Grund, sich zu verstellen. Wobei sie diesmal ungewöhnlich still gewesen waren, nur auf ihren Fisch geglotzt und kaum mit ihren Platznachbarn geredet hatten. Vielleicht mussten sie sich nach dem ganzen Theater erst wieder sammeln. Aldís hatte geholfen, das Essen reinzutragen, und jedes Mal, wenn sie den Speiseraum betreten hatte, hatten die Jungen Blicke getauscht, als müssten sie unter sich ausmachen, ob sie sie ignorieren oder freundlich behandeln sollten. Gehörte sie zu den Guten oder zu den Bösen?
»Danke, dass du nicht gepetzt hast«, hörte Aldís jemanden hinter sich sagen. Fast wäre ihr der Teller aus der Hand gerutscht, denn sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie Einar gar nicht bemerkt hatte. »Kann ich dir beim Abräumen helfen? Zu zweit sind wir blitzschnell.«
»Nein, nein danke.«
Er stand viel zu nah bei ihr, und sie wünschte, er würde gehen.
»Ich helfe dir trotzdem. Das bin ich dir schuldig, du hättest mich echt in Schwierigkeiten bringen können.«
»Du bist schon in Schwierigkeiten, du bist nämlich hier«, sagte Aldís, wandte sich von ihm ab und stapelte weiter Teller aufeinander. »Ich weiß nicht, ob ich das nächste Mal auch den Mund halten werde, wenn du einen anderen Jungen erdrosselst. Du hast noch mal Glück gehabt. Aber vielleicht hatte Keli es ja auch verdient.«
Sie drehte sich kurz um und sah, dass er zu dem anderen Tisch gegangen war und das schmutzige Geschirr einsammelte. Bisher war noch keiner der Jungen auf die Idee gekommen, ihr zu helfen, und sie merkte, dass sie gegen ihren Willen von ihm angetan war und für einen Moment vergaß, wie abstoßend er gewesen war, als er Keli gewürgt hatte.
»Du solltest vorsichtig sein. Keli versucht bestimmt, sich zu rächen«, warnte sie ihn.
»Der kann mir gar nichts«, entgegnete Einar mit übertriebener Selbstsicherheit. »Aber ich will natürlich keinen Ärger. Ich will zurück nach Hause. Wenn er mich eben schon nicht verpfiffen hat, lässt er mich vielleicht ganz in Ruhe. Hoffe ich jedenfalls. Ich muss unbedingt hier weg.«
Einar hatte alle Teller aufeinandergestapelt, und Aldís nahm den Stapel entgegen. Er war schief, weil Einar die Essensreste nicht auf den obersten Teller geschoben, sondern einfach alle Teller aufeinandergestellt hatte. Plötzlich merkte Aldís, wie schlampig sie aussah, und wurde rot. Ihre Klamotten waren alt und schmutzig von der Arbeit. Während er frisch aus der Stadt kam, waren ihre Sachen längst aus der Mode. Außerdem hatte sie ihre Haare am Morgen zu einem nachlässigen Zopf zusammengebunden, und ihr Gesicht war verschwitzt und glänzte. Normalerweise machte sie sich nicht solche Gedanken über ihr Aussehen – je schlimmer, desto besser. Das minimierte die gierigen Blicke der Jungen.
»Lass das einfach stehen. Ich hole es gleich«, sagte sie ohne jegliche Freundlichkeit in der Stimme, denn sie wollte einfach nur alleine sein. Alleine mit dem Abwasch wie an anderen Abenden auch.
»Klar helfe ich dir. Musst du spülen? Ich kann super abtrocknen.« Er lächelte ihr dumpf, aber nicht besonders freundlich zu – eigentlich eher traurig als fröhlich.
»Warum bist du hier? Was hast du gemacht?«, sprudelte es plötzlich aus ihr heraus, ohne dass sie es wollte.
Einar stellte die Teller ab und senkte den Blick. Jetzt wurde er rot, aber Aldís wusste nicht, ob er sauer auf sie war oder sich für seine Taten schämte.
»Nichts. Ich hab nichts gemacht.«
»Ja, klar«, sagte sie nur und schaute ihm hinterher, als er ohne ein weiteres Wort aus dem Speiseraum ging, die Hände zu Fäusten geballt. Dabei lief ihr ein Schauer über den Rücken. Warum hatte sie sich nicht beherrscht? Schließlich hatte sie nicht oft Gesellschaft beim Abräumen. Sie hörte, wie die Haustür ins Schloss knallte, und empfand eine überwältigende Einsamkeit. Lilja war schon weg und würde nicht mehr zurückkommen, niemand würde die Stille im Haus durchbrechen. Wenn Aldís die Ohren spitzte, konnte sie den Wasserhahn in der Küche tropfen hören. Die Küchentür schwang leicht hin und
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