Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
die sich ihre Familien nicht kümmern konnten, Kinder, die nichts verbrochen hatten und nur Opfer ihrer Umstände waren. Deshalb erschien es widersprüchlich, dass das System mit den gewalttätig gewordenen Jugendlichen nachgiebiger umgegangen sein sollte. Aber Óðinns Beurteilung konnte sich durchaus noch ändern. Er musste noch mit ehemaligen Bewohnern sprechen, denn die vorhandenen Unterlagen sagten nichts über die Sicht der Opfer aus. Dennoch rechnete er nicht damit, dass bei solchen zufällig ausgewählten Gesprächspartnern viel herauskäme. Keiner der ehemaligen Bewohner hatte vor zwei Jahren die Chance genutzt, mit dem Heimausschuss zu sprechen, als man per Anzeige nach Personen gesucht hatte, die sich zwischen 1945 und 1978 in staatlichen Heimen aufgehalten hatten. Dabei fiel das Heim in diesen Zeitrahmen, und die Sache war weitreichend bekanntgemacht worden. Man sollte also annehmen, dass die Leute nicht unter alten Ungerechtigkeiten litten.
Óðinn konnte sich erlauben, optimistisch zu sein. Zumal über die anderen Heime auch ohne öffentliche Untersuchungen schon lange schreckliche Geschichten im Umlauf waren. Beim Erziehungsheim Krókur sah die Sache anders aus: Kaum jemand wusste von seiner Existenz, und es gab auch kein Gerede darüber. Natürlich konnte das damit zusammenhängen, dass das Heim nur relativ kurz in Betrieb gewesen war und die Bewohner älter, abgeklärter und deshalb auch weniger geneigt waren, sich später über eine schlechte Behandlung zu beschweren.
Es war mit anderen Worten nicht auszuschließen, dass das Heim schlecht geführt worden war, ohne dass es sich groß herumgesprochen hatte. Óðinn hatte beispielsweise immer noch keine Auskünfte über den Tod der beiden Jungen erhalten, die angeblich bei einem Unfall gestorben waren. Das Einzige, was er bisher herausgefunden hatte, war, dass sie im Auto des Heimleiters gestorben waren. Bei laufendem Motor hatte eine Schneewehe das Auspuffrohr blockiert. Óðinn hatte im Internet nach alten Meldungen über den Vorfall gesucht, aber die Berichterstattung war in den siebziger Jahren wesentlich knapper gewesen als heute. Die Meldungen waren zurückhaltend, und man achtete sehr darauf, die Angehörigen zu schützen, so dass fast nichts bekanntgeworden war. Es war zweifellos eine große Schande gewesen, dass die Jungen in einem Erziehungsheim gewesen waren. Nachdem der schreckliche Vorfall einmal kurz in den Nachrichten erwähnt worden war, wurde die Sache fallengelassen. Es gab noch nicht einmal Nachrufe auf die beiden Jungen. Neben diesen alten Pressemeldungen hatte Óðinn in einer von Róbertas Akten noch einen Brief des Bezirksvorstehers gefunden. Darin schrieb er, die Untersuchung habe ergeben, dass es sich um einen Unfall handele, dessen Ursachen nicht auf ein Fehlverhalten oder auf Versäumnisse der Heimleitung oder anderer Heimmitarbeiter zurückzuführen seien. Es sei nicht vorhersehbar gewesen, dass sich die Jungen auf den Rücksitz des Wagens setzen würden, und man könne nicht jeden einzelnen Jungen vierundzwanzig Stunden lang unter Beobachtung halten. Ebenso wenig sei es möglich, sich in die Gedanken der Jungen hineinzuversetzen und ihre Einfälle im Voraus abzusehen. Sie hätten im Heim gewisse Freiheiten gehabt, die sie in diesem Fall für Dummheiten ausgenutzt hätten, die ihnen zum Verhängnis geworden seien.
Schwer zu sagen, wie viel man von öffentlichen Statements wie diesem aus der damaligen Zeit halten sollte, aber Óðinn hielt es dennoch für unangebracht, am Wahrheitsgehalt des Briefs zu zweifeln. Er fand die Wortwahl bei einem so tragischen Ereignis zwar ziemlich nüchtern, aber vielleicht war das bei öffentlichen Behörden in den siebziger Jahren üblich gewesen. Warum hätte der Bezirksvorsteher die Heimleitung schützen sollen? Wobei man das bei einer so kleinen Gesellschaft nie wissen konnte. Óðinn war fest entschlossen, sich die Untersuchungsberichte über den Unfall zu beschaffen. Falls sie noch auffindbar waren.
Wenn die offiziellen Unterlagen verschwunden oder vernichtet worden waren, hatten die Angehörigen der Verstorbenen sie vielleicht noch. Der Tod der beiden Jungen war nach wie vor die einzige Unstimmigkeit, auf die er gestoßen war, und es war ihm wichtig, diese Unterlagen einzusehen. Ansonsten wäre sein Bericht nicht viel wert. Schließlich sollte er beurteilen, ob der Staat den ehemaligen Bewohnern möglicherweise eine Entschädigung zahlen musste, was wiederum davon abhing, ob den
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