Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Veränderungen in seinem Leben klarzukommen? Das Leben änderte sich doch ständig. Und jeder gewöhnte sich auf seine Art an neue Umstände. Der Mann hatte ihm auch geraten, Rún zu einem Kinderpsychologen zu schicken, aber das hatte Óðinn ebenso wenig hören wollen. Rún war sein Kind, und er war voll und ganz in der Lage, sich um sie zu kümmern. Sie war nicht psychisch krank, nur weil ihre Mutter gestorben war. Sie war nur traurig, und das ließ sich anders beheben als durch eine Therapie.
Im Nachhinein betrachtet war das nicht besonders klug von ihm gewesen. Weder bezüglich seiner selbst noch in Bezug auf Rún. Es gab so vieles, das sie beide nicht verarbeitet hatten – seine Tochter war aggressiv und unsicher, und er selbst stand immer noch unter Schock, obwohl schon viele Monate seit der Katastrophe vergangen waren. Vielleicht würden sie besser klarkommen, wenn er Hilfe angenommen hätte, vielleicht würde Rún ihn dann seltener fragen, was aus ihr würde, wenn er stürbe, vielleicht wäre alles einfacher, wenn er die ganze Geschichte aufarbeiten würde, wie der Psychologe ihm geraten hatte. Die vergangenen Monate waren nebelhaft an ihm vorbeigezogen, und er ahnte, dass es Rún genauso erging. Er hatte ihr, ohne es wirklich zu wollen, die Verarbeitung des Todes ihrer Mutter verwehrt, hatte nicht darüber geredet, jegliches Wort darüber vermieden und versucht, ihr sogar das Denken daran zu verbieten. Natürlich war das zum Scheitern verurteilt. Inzwischen litten sie beide unter Verfolgungswahn und waren emotional erstarrt. Was bestimmt der Grund dafür war, dass sie so oft von ihrer Mutter träumte. Und dass diese Träume immer merkwürdiger und unheimlicher wurden.
Doch das konnte er jetzt nicht mehr ändern. Die Frage war nur, ob er die Sache auf sich beruhen lassen oder sie endlich angehen sollte. Er war seiner Tochter und seiner Exfrau zumindest den Versuch schuldig, ihr Leben in den Griff zu bekommen, damit Rúns Albträume aufhörten und er nicht hinter jeder Ecke und in jedem Winkel der Wohnung etwas Bedrohliches wähnte.
Óðinn war bei seinem Wagen angelangt und tastete mit eingefrorenen Fingern nach dem Autoschlüssel. Er stieg ein und zog die Wagentür zu. Während er dasaß und feuchte Atemwölkchen ausstieß, beschloss er, am Abend, wenn Rún im Bett wäre, den Weg der Besserung einzuschlagen und sich die Berichte über Láras Tod anzuschauen. Das war der Anfang. Dann würde er die Visitenkarte der Kinderpsychologin heraussuchen, die man ihm empfohlen hatte, und einen Termin mit ihr vereinbaren. Gemeinsam würden sie es schon schaffen.
Er lächelte und ließ den eiskalten Wagen an, völlig ahnungslos, was ihn in den Polizeiberichten aus dem Hemdenkarton erwartete.
6. Kapitel
Der Wohnblock stand am Rande des Viertels, Wind und Wetter schutzlos ausgeliefert. Dahinter nichts als kahle Sumpf- und Schotterflächen. Óðinn hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht und die Vorhänge zugezogen. Sie bauschten sich in den Sturmböen, die ans Fenster schlugen, als stehe jemand hinter ihnen und stieße sie jedes Mal an, wenn der Wind aufheulte. Der Sturm tobte schon seit einer Stunde und schien so bald nicht nachzulassen. Es war, als würden die Meteorologen in dieser Jahreszeit extra dafür bezahlt, Sturm vorherzusagen – sobald ein Unwetter vorüber war, warnten sie schon vor dem nächsten, noch schlimmeren. Meistens fand Óðinn solches Wetter furchtbar, aber jetzt war es eigentlich ganz passend.
Obwohl der Papierstapel auf dem Sofa nicht groß war, fühlte er sich überfordert. Er hatte sich vorgenommen, die Unterlagen aus dem Hemdenkarton Wort für Wort durchzugehen, doch schon nach dem ersten Absatz des Obduktionsberichts konnte er nicht mehr. Es handelte sich um eine kurze Zusammenfassung von Láras Verletzungen, der zufolge der eigentliche Bericht der reinste Horror sein musste. Óðinn wollte nichts über gebrochene Knochen in beiden Armen lesen, die aus der Haut herausstachen. Das Schlimmste war, dass die Brüche darauf schließen ließen, dass Lára versucht hatte sich beim Aufprall mit den Händen abzustützen. Natürlich war sie nicht im Fall gestorben, aber er hatte nie über die genaue Todesursache nachgedacht. Sie war gefallen. Sie war gestorben. Er wollte sich zwar mit den Tatsachen auseinandersetzen, doch auf so etwas war er nicht gefasst gewesen. Während er sich von dem ersten Schock erholte, berechnete er auf dem Handy mit einer einfachen Gleichung, die er noch aus der
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