Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Betreffenden durch den Aufenthalt ernsthaft Schaden zugefügt worden war. Und ein ernsthafterer Schaden als der Tod war wohl kaum vorstellbar.
Óðinn wunderte es, dass das Heim kurz nach dem Unfall geschlossen worden war. Vielleicht gab es da ja eine Verbindung, aber er hatte keine Anhaltspunkte. Ohne Beweise wären seine Schlussfolgerungen nichts anderes als Erfindung. Morgen musste er sich auf die Suche nach ihnen machen.
Die Polizeiberichte über Láras Tod verwahrte er beispielsweise in einem Schrank auf. Láras Mutter hatte sie sich mit Hilfe eines Anwalts verschafft und ihm gegeben, nachdem sie sie selbst gelesen hatte. Er hatte sie damals nicht durchsehen wollen, aber trotzdem aufbewahrt. Auch wenn er nicht richtig verstanden hatte, warum seine Schwiegermutter sich damit beschäftigte, begriff er langsam, dass es durchaus vernünftig war. Er würde sich auch irgendwann durch diese Unterlagen quälen, aber wichtig waren sie vor allem für Rún, wenn sie groß wurde und mehr über das Schicksal ihrer Mutter wissen wollte. Dabei fiel ihm ein, dass er den Hemdenkarton mit den Unterlagen noch in den Keller bringen wollte, damit Rún ihn nicht zufällig fand. Sie war noch viel zu jung dafür. Noch lag der Karton in einem der oberen Regale seines Kleiderschranks, und obwohl er bezweifelte, dass sie darin herumkramte, konnte man nie wissen, was für Einfälle sie hatte.
Bevor er die Polizeiberichte endlich in den Keller brächte, könnte er vielleicht tatsächlich einen Blick darauf werfen. Vielleicht war das auch unvernünftig, denn er würde es kaum schaffen, ohne dass Rún es bemerkte. Dafür brauchte er Ruhe und Zeit, ohne Gefahr zu laufen, von ihr gestört zu werden und die Sachen hektisch unter den Sessel schieben zu müssen. Das, was ihn wirklich von dem Karton abschreckte, war sein Inhalt. Er befürchtete, Láras Tod nicht mehr aus dem Kopf zu kriegen, wenn er sich einmal damit auseinandersetzte. Vielleicht war es den Angehörigen der beiden Jungen genauso ergangen, als sie die Polizeiberichte bekommen hatten, und jetzt lagen sie in verstaubten Kisten in den obersten Regalen irgendwelcher Kleiderschränke. Óðinn war noch nicht dazu gekommen, zu überprüfen, ob die Eltern der Jungen, die um die achtzig sein mussten, überhaupt noch lebten.
Er nahm die halbvolle Kaffeetasse, schaltete den Computer aus, ging in die kleine Teeküche und stellte die Tasse ins volle Spülbecken. Seine nackten Füße juckten, und er freute sich darauf, nach Hause zu kommen. Oder auch nicht. Es war schwierig, sich selbst etwas vorzumachen, und seit ihn der Zigarettengeruch und das offene Küchenfenster begrüßt hatten, fühlte er sich in der Wohnung immer unwohler. Die harmlosesten Geräusche und die kleinsten Bewegungen ließen ihn manchmal zusammenzucken. Das war natürlich völlig albern, und er würde es nie jemandem erzählen. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass seine Tochter, die alte Frau und er nicht alleine im Haus waren. Er wusste, dass das Unsinn war, aber das änderte nichts an seinem merkwürdigen Gefühl. Er hatte sogar die Einladung seines Bruders Baldur abgelehnt, dass Rún das Wochenende bei ihm verbringen könne, was er bisher immer gerne angenommen hatte. Dann hätte er mit seinen Kumpels einen draufmachen oder sie zum Fußballgucken einladen können, aber es hätte auch bedeutet, dass er zwei Nächte alleine in der Wohnung verbringen müsste. Wenn sie beide zu Hause waren, konnte er die undefinierbaren Geräusche seiner Tochter zuschreiben, und er wollte sie lieber nicht hören, wenn er alleine in der Wohnung war.
Óðinn ging denselben Weg zurück zum Auto, den er am Morgen durch den Schneematsch gekommen war. Das Wetter war stark abgekühlt, und es hatte begonnen zu frieren. Óðinn hatte kalte Füße und spürte den harten Bürgersteig und den Dreck unter den Schuhsohlen ohne Socken viel deutlicher. Er war extrem genervt und überlegte, ob die Wut nun endlich aus ihm herausbrechen würde. Ein Psychologe, mit dem er auf Anraten gesprochen hatte, hatte ihm erklärt, Láras Tod und die Veränderungen in seinem eigenen Leben könnten so etwas auslösen. Óðinn hatte sich nur schwer auf die Worte des Mannes konzentrieren können und die Sache als Zeitverschwendung empfunden. Als der Psychologe ihm vorgeschlagen hatte, eine Gesprächstherapie bei ihm zu machen, hatte er gesagt, er würde darüber nachdenken, und sich nie wieder gemeldet. Wie sollte ein Fremder ihm dabei helfen, mit den
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