Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
mitteilen würde, Rún sei tot. Ihn womöglich auch noch hektisch und laut auffordern würde, schnell mit zum Unfallort zu kommen. Seit diesem Ereignis verhielt sich Rúns Großmutter ziemlich merkwürdig, was wohl nicht weiter verwunderlich war. Sie war schon immer abweisend zu Óðinn gewesen, doch die wenigen Male, die er sie seit dem Unfall getroffen hatte, hatte sie ihn komplett ignoriert, ihn nicht angeschaut, nicht mit ihm geredet, ihn noch nicht mal gegrüßt.
Er hatte jahrelang nicht viel von ihr mitbekommen, vielleicht war sie im Laufe der Zeit depressiv geworden, wobei das eher unwahrscheinlich war. Der Tod ihrer Tochter musste ihr so zugesetzt haben. In letzter Zeit war es allerdings etwas besser geworden, und Óðinn konnte immerhin am Telefon mit ihr über Rún sprechen, wenn auch nur oberflächlich. Wahrscheinlich machte sie ihn dafür verantwortlich, dass das Kind nicht bei ihr übernachten wollte und kaum dazu zu bringen war, sie zu besuchen. Was nicht stimmte, denn Rún entschied das ganz alleine. Óðinn verstand seine Tochter gut, denn ihre Großmutter war so verbittert, und er drängte Rún nur in absoluten Ausnahmefällen zu einem Besuch. So kam es, dass Rún ihre Oma nach dem Tod ihrer Mutter nur ein paarmal getroffen hatte. Hoffentlich würden die Besuche langsam häufiger werden, doch solange Rún bedrückt und traurig von ihrer Oma zurückkam, war es am besten, sie auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Die Frau würde sich wohl mit der Zeit wieder fangen.
Óðinn hörte, wie Rún sich im Bett herumwälzte. Dann wurde es ganz leise. Sie träumte bestimmt. Auch wenn sie nicht aufgewacht war, war Óðinn nicht vollständig beruhigt. Er starrte zum Schlafzimmerflur, als erwarte er dort eine Bewegung. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass Rún dort im Schatten stand und ihn beobachtete, dass sie wusste, dass er sich mit dem Schicksal ihrer Mutter beschäftigte, und unzufrieden war, weil er sie nicht daran teilhaben ließ. Aber das war völliger Unsinn – selbstverständlich schlief sie, steckte mitten in ihren seltsamen Träumen oder Albträumen von ihrer Mutter, die sie jede Nacht heimsuchten. Und genau das war einer der Gründe, warum er jetzt hier saß und alte Wunden wieder aufriss. Ihr Leben musste sich ändern. Er wollte jedenfalls nicht so ein Drama erleben, wie es sich gerade auf dem Bildschirm abspielte. Dort waren die Schauspieler in einen heftigen Streit verwickelt, der wohl übel ausgehen würde. Óðinn reckte sich nach der Fernbedienung und schaltete aus.
Er vertiefte sich wieder in die Papiere, aber diesmal hatten sie keine so große Wirkung auf ihn. Er zuckte nur zusammen, als er ein Foto von der Küche nach dem Unfall sah. Darauf war kein Blut oder Ähnliches zu sehen, doch was ihn erschauern ließ, war das Küchenfenster. Alles andere sah beklemmenderweise so ähnlich aus wie damals, als er seine Familie verlassen hatte, als hätte die Zeit in Láras Leben stillgestanden, während sein Leben weitergegangen war. Neben dem Spülbecken stapelte sich schmutziges Geschirr, und in dem Regal an der Wand stand derselbe bunt durcheinandergewürfelte Nippes. Óðinn schaute sich um und verglich das Foto mit seiner Wohnung. Bei ihm war alles so unverkennbar von einem alleinstehenden Mann eingerichtet, dass es fast peinlich war. Richtig Geld gekostet hatten die Stereoanlage und die technischen Geräte, als Möbel reichten ein Sofa und ein Couchtisch, und es gab keine Vasen oder sonstige Verschönerungen. Nur eine Tonschale, die Rún in der Schule angefertigt hatte, stand auf dem Fernseher. Sie war von außen ziemlich gut geglückt, hübsch und sorgfältig bemalt, aber innen mit kleinen Rissen durchzogen. Wie seine Tochter, dachte er und schämte sich ein bisschen dafür.
Óðinn las weiter. Er merkte schnell, warum die Ermittlungen sich nicht auf einen potentiellen Eindringling konzentriert hatten. An einer Stelle stand, die Polizei gehe davon aus, dass Lára die Waschmaschine in der gemeinsamen Waschküche im Keller angestellt habe. Sie wollte für ihre Mutter Tischdecken waschen, und die lagen noch in der Maschine, als die Polizei zum Unfallort kam. Óðinns ehemalige Schwiegermutter bestätigte das. Ihre Maschine sei kaputt, und sie könne sich derzeit keine Reparatur leisten.
Demnach hatte die eine Schwester, die gerade lernte, Lára gehört – keinen Einbrecher oder sonstigen Übeltäter. Lára war in die Waschküche gegangen und hatte selbstverständlich nicht an ihrer eigenen
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