Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
eingeschaltet war. Er überlegte, ob er nachschauen sollte, ob sie irgendwelche Ordner auf ihre Festplatte gelegt hatte, anstatt sie im allgemeinen Netzwerk zu speichern, wie die Mitarbeiter der Behörde es eigentlich machen sollten. Sie wäre jedenfalls nicht die Einzige gewesen – ständige Verbesserungen und Systemupdates hatten zu gehörigen Verzögerungen geführt, so dass viele Kollegen diese Anordnung umgingen. Während Óðinn Platz nahm, ging ihm durch den Kopf, dass er damit bestimmt gegen eine interne Vorschrift, wenn nicht gar gegen ein Gesetz verstieß. Aber er konnte es ja trotzdem mal versuchen; wenn er das Passwort rauskriegte, würde er nachsehen – ansonsten nicht. Er hatte bei Arbeitsantritt ein Passwort zugeteilt bekommen mit der Anweisung, es sofort zu ändern, sich aber nie darum gekümmert. Wenn Róberta das genauso gemacht hatte, war es ihr jedenfalls gleichgültig, ob jemand in ihren Computer kam. Er tippte ihren Vornamen und die Ziffern 789 ein.
Der Computer begrüßte Róberta Gunnarsdóttir. Óðinn zögerte einen Moment, machte dann aber ungerührt weiter. Er würde nur Dateien öffnen, die mit der Arbeit zu tun hatten, und alles Persönliche sofort wieder schließen.
Auf dem Schreibtisch befanden sich keine Dateien, was Óðinn seltsam fand, denn bei seinem eigenen Computer war das ganz anders. Nur ganz unten auf dem Bildschirm lagen zwei geöffnete Word-Dateien, und als er sie anklickte, stellte er zu seiner Verwunderung fest, dass sie leer waren. Die Dateien trugen die Namen der beiden Jungen, die bei dem Unfall im Heim gestorben waren: einar.docx und tobbi.docx. Er tippte in beiden Dateien mehrmals auf »rückgängig«, falls Text gelöscht worden war, ohne dass etwas geschah. Es war ausgeschlossen herauszufinden, was für Informationen Róberta dort sammeln wollte, wobei das bestimmt nicht Teil des Berichts gewesen war. Es hatte nie zur Debatte gestanden, über einzelne Jugendliche so detailliert zu recherchieren, selbst wenn sie in Krókur gestorben waren. Róberta sollte bis auf weiteres lediglich untersuchen, ob die Mitarbeiter des Heims den Jugendlichen Schaden zugefügt hatten und der Staat zu einer Entschädigung verpflichtet war.
Das musste ein Zeichen für krankhaften Arbeitseifer sein, der vielleicht auf ihre angeschlagene Gesundheit zurückzuführen war. Der Bericht hatte sie überfordert, war vielleicht nicht die Hauptursache für ihre Erkrankung gewesen, wie Diljá hatte durchblicken lassen, aber sie war labil und unfähig gewesen, das Projekt anzugehen. Vielleicht war sie in einem Teufelskreis gelandet, hatte sich schlapp und unkonzentriert gefühlt, sich dann unter Druck gesetzt, war daraufhin noch kränker geworden und hatte ihre Arbeit noch weniger erledigen können und so weiter.
Nachdem Óðinn die Ordner auf dem Computer durchgesehen hatte, war er sich ziemlich sicher, dass sich dort außer diesen beiden Dateien nichts befand, was mit dem Heim zu tun hatte. Er überlegte, ob er es wagen sollte, einen Blick auf die E-Mails zu werfen, bei denen er leicht auf Privates stoßen konnte. Andererseits gab es im Netzwerk keine Mails von Róberta zu dem Projekt, so dass sie eigentlich auf ihrem Computer liegen mussten. Wenn er das jetzt nicht checkte, musste er eine offizielle Erlaubnis beantragen, was Monate dauern konnte. Und dann wäre er mit seinem Bericht längst fertig. Óðinn öffnete das Mailprogramm.
Erst poppte ein Fenster mit allen möglichen Erinnerungen auf: zwei Aufrufe zu Meetings, ein Termin für einen Ölwechsel bei ihrer kleinen Klapperkiste, eine Hochzeit und am selben Tag ein Friseurtermin. Óðinn überlegte, ob die Friseurin eine Mitteilung erhalten hatte, dass Róberta aufgrund ihres eigenen Todes nicht kommen könne, oder ob sie am Samstag zur Arbeit gegangen war und ungeduldig auf ihre Kundin gewartet hatte. Óðinn löschte eine Erinnerung nach der anderen, bis das Fenster verschwand, und checkte dann, ob im Kalender etwas zu finden war – Verabredungen mit den ehemaligen Heimbewohnern oder Ähnliches. Fehlanzeige.
Im Posteingang lagen ungefähr hundert Mails, von denen sechzehn geöffnet waren. Óðinn überflog die Betreffzeilen der neuesten Mails und sah, dass es sich vor allem um Werbung und Mitteilungen von Róbartas Bank handelte. Er scrollte weiter nach unten, bis er auf eine interessante Mail stieß. Sie kam von einer gmail-Adresse und hatte den Betreff »Krókur – sofort lesen« mit einem roten Ausrufezeichen. Óðinn
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