Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
seinen schmalen Schultern.
»Mir egal, ich weiß keinen besseren Ort. Hier kriege ich immerhin Kost und Logis.«
Er zog an seiner Zigarette, ohne sie in die Hand zu nehmen. Während er den Rauch einsog, stand sie senkrecht aus seinem Mund nach oben, um danach wieder schlaff herunterzuhängen.
»Unterkünfte gibt es doch überall. Ich miete mir ein Zimmer, wenn ich hier weggehe. In der Stadt.«
Hákon bohrte seine Zunge in seine Wange. Dabei glätteten sich seine Falten, und er sah viel besser aus. Wenn er ein bisschen zunehmen würde, wäre er gar nicht so unattraktiv.
»Wenn dir jemand in Reykjavík ein Zimmer vermieten will, heißt das nicht, dass ich genauso viel Glück hätte. Du bist jung und hübsch und hast noch dein ganzes Leben vor dir.« Er zog wieder an seiner Zigarette, diesmal nur ganz kurz, Rauch ein, Rauch aus. »Pass auf, dass du deine Chancen nicht verspielst. Du willst ja nicht so enden wie ich.«
Aldís’ entsetzter Gesichtsausdruck rief bei Hákon ein heiseres Lachen hervor, wobei er nicht verbergen konnte, dass ihn ihre Reaktion verletzte. Ihr fiel nichts ein, um sie abzumildern, und so schwieg sie einfach, beobachtete ihn weiter, ohne ein neues Thema anzuschneiden. Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und drückte sie dann auf dem gestrichenen Betonfußboden aus. Dabei blieb ein schwarzer Streifen zurück, den Aldís später wegwischen müsste, und ihr schoss durch den Kopf, dass er das absichtlich gemacht hatte. Als kleine Rache für die Beleidigung. Hákon beendete die Reparatur, ohne noch etwas zu sagen. Als er sein abgenutztes Werkzeug eingesammelt hatte und auf dem Weg nach draußen war, blieb er in der Türöffnung stehen, als denke er über etwas nach. Dann drehte er sich zu ihr um und starrte sie mit fahlen Augen an.
»Wenn ich du wäre, würde ich sofort aufhören, Aldís. Du gehörst nicht hierher.« Als er sah, dass sie ihm nicht zustimmte, zögerte er einen Moment und fügte dann hinzu: »Wenn du dich mit den Leuten hier abgibst, bewegst du dich auf dünnem Eis. An deiner Stelle würde ich mich vom Acker machen. Diese Jungen haben keine Zukunft, glaub mir.«
Ohne sich zu verabschieden, ging er durch die Tür und ließ sie mit geröteten Wangen zurück. War ihre Zuneigung zu Einar so offensichtlich? Sprachen womöglich alle über sie, wenn sie nicht zuhörte? Ihr schwindelte bei der Vorstellung. Wenn es etwas gab, das sie nicht ausstehen konnte, dann war es Flüstern und Kichern hinter ihrem Rücken. Davon hatte sie schon in der Schule genug gehabt.
Sie pfefferte einen großen Stapel schmutzige Bettlaken in die Waschmaschine, als werfe sie ihre Feinde ins Fegefeuer, wütend auf alles und alle, vor allem jedoch auf sich selbst. Als sie zusah, wie sich die Wäsche Runde um Runde im Kreis drehte, fühlte sie sich etwas besser. War doch egal, sie konnte die Meinung anderer eh nicht ändern. Aber Hákon hatte sie trotzdem nachdenklich gemacht. Er hatte recht, sie sollte nicht länger warten. Sie hatte genug Geld, um sich, wenn sie sparsam lebte, ein paar Monate über Wasser halten zu können, während sie sich einen neuen Job suchte. Wenn nur nicht alles immer teurer würde. Seit sie angefangen hatte zu arbeiten und zu sparen, waren die Preise explodiert. Die Zimmer, die zur Miete inseriert waren, waren viel teurer als am Anfang, und die Anzeigen wurden immer weniger. Je eher sie sich also aufmachte, umso besser. Ihr ursprünglicher Plan, bis zum Frühjahr zu warten und sich bei schönem Wetter einen neuen Job zu suchen, wirkte jetzt ziemlich unrealistisch. Es machte keinen Unterschied, ob es kalt oder warm war. Je eher sie ging, desto schneller erreichte sie ihr Ziel: etwas anderes als in Krókur und etwas anderes als in ihrer Heimat.
Als sie hinaus in die Dunkelheit trat, ließ ihre Überzeugung ein wenig nach. Es war gerade mal acht Uhr abends und stockdunkel. Sie hörte das leise Piepen des Vogels irgendwo über sich, der ihr wahrscheinlich mitteilte, dass es an der Zeit sei, ihn zu füttern. Das musste bis morgen warten. Vielleicht wollte er auch nur auf sich aufmerksam machen. Wenn sie in die Stadt fahren würde, wäre er tot. In Krókur würde sich außer ihr niemand um einen kranken Vogel kümmern, der nur Arbeit machte. Vielleicht war es ja doch schlauer, sich an ihren ursprünglichen Plan zu halten und im Frühling aktiv zu werden. Neben der Sache mit dem armen Vogel machte ihr die Dunkelheit zu schaffen, sie fühlte sich einsam, und das wäre in Reykjavík nicht
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