Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
nichts im Büro zu suchen hatte, weigerte sich die Kaffeemaschine, ihm zu gehorchen. Kaffeesatz verstopfte die Maschine, und Óðinn bekam ihn einfach nicht heraus. Der Instantkaffee schmeckte so, als stände die Dose mit dem Pulver schon seit dem Bau des Gebäudes da, als hätten die Schreiner diese Brühe schon beim Innenausbau verschmäht. Aber das Zeug weckte seine Lebensgeister und war ein gutes Gegengewicht zu dem leisen Summen der Computer, die Óðinns Kollegen beim Verlassen ihrer Arbeitsplätze nicht ausgeschaltet hatten. Das Licht vor den Fenstern verstärkte die träge Atmosphäre: gräuliche Wolken, überall schmutziger Schnee in derselben Farbe, nirgends ein Stück blauer Himmel. Die Konturen zwischen Himmel und Erde waren verwischt. Noch immer war Sturm vorhergesagt, und die Wolken warteten nur darauf, Schneeschauer über die Stadt zu ergießen. Óðinn hoffte, dass das noch etwas dauern würde. Rúns Großmutter wohnte in der Innenstadt, und er wollte nicht bei schlechten Straßenverhältnissen mit abgefahrenen Reifen durch die engen Einbahnstraßen kurven. Falls es doch plötzlich anfangen würde zu schneien, müsste er sich beeilen und Rún früher abholen, egal, was sie vereinbart hatten. Er würde sich auf keinen Fall verspäten. Seine Schwiegermutter würde ihr Enkelkind bestimmt länger bei sich behalten wollen, aber Rún wäre alles andere als begeistert, wenn sich der Besuch hinzog. Hoffentlich ließ sich der Schnee noch etwas Zeit, und alles lief wie besprochen. Sonst würde seine Schwiegermutter ihn wahrscheinlich für den Wolkenbruch verantwortlich machen, aber man konnte ja nicht von allen gemocht werden. Und er war es gewohnt, von niemandem gemocht zu werden.
In der Kindheit war sein Bruder Baldur jedermanns Liebling gewesen. Óðinn war zwar anerkannt, aber nie der Beliebteste in seinem Freundeskreis gewesen, hatte immer im Schatten anderer gestanden. Vielleicht klammerte er sich deshalb so an Rún, weil er für sie der Größte war, und das war ein angenehmes Gefühl.
Die Jugendlichen im Erziehungsheim waren bestimmt auch nicht jedermanns Lieblinge gewesen. Bei Róbertas Unterlagen waren Fotos von ein paar Jungen, die schon einiges – und bestimmt nicht viel Positives – erlebt hatten. Ihre Gesichter wirkten nicht so, als würden sie sich auf den nächsten Tag freuen, sondern jeden Moment mit dem Schlimmsten rechnen. Angespannte Kiefer und gerunzelte Augenbrauen. Óðinn glaubte nicht, dass diese Gesichtszüge nur auf das Heim zurückzuführen waren. Auch wenn der Aufenthalt dort bestimmt keine wahre Freude gewesen war, veränderten sich unschuldige Jugendliche nicht in ein paar Monaten so stark, und die meisten Jungen hatten nicht länger als ein Jahr in Krókur verbracht. Sobald sie volljährig wurden, konnte man sie nicht länger dort festhalten, denn das Heim war ja kein Gefängnis.
Damals hatte man das als gute Möglichkeit angesehen, die Jungen von der schiefen Bahn fernzuhalten, was jedoch nicht allzu erfolgreich gewesen war. Man hatte das Heim geschlossen, und viele der ehemaligen Insassen waren nicht unbedingt zu vorbildlichen Mitbürgern geworden. Die Untersuchungen anderer Erziehungsheime, in denen jüngere Kinder beiderlei Geschlechts untergebracht waren – und das nicht wegen dummer Jungenstreiche oder kleinerer Vergehen –, hatten gezeigt, dass dort eine extreme Härte an der Tagesordnung gewesen war, wofür sich damals jedoch anscheinend niemand interessiert hatte. Wie so viele andere Versuche, gesellschaftliche Probleme zu lösen, war die Idee, Kinder aus ihren Familien und ihrer vertrauten Umgebung zu reißen, im Nachhinein betrachtet völlig misslungen. Traurig war nur, dass heutzutage gerade etwas ähnlich Absurdes in Mode kam, was den Leuten wahrscheinlich auch erst Jahrzehnte später auffallen würde. Und dann wäre es zu spät.
Bei diesen Gedanken wurde Óðinn ganz trübselig. Das Einzige, was er in den letzten zwei Stunden geschafft hatte, war, ein Inhaltsverzeichnis und Kapitelüberschriften für den Bericht zu erstellen. Er wollte aufstehen, sich kurz strecken, einen Blick in Róbertas Box werfen und noch einmal ihre Unterlagen durchsehen, für den Fall, dass er etwas übersehen hatte.
Als ihn der Duft von Diljás süßem Parfüm in der Nase kitzelte, musste er so heftig niesen, dass es durch den verlassenen Saal echote. Dann war wieder nur noch das Summen der Computer zu hören. Óðinn lauschte und stellte fest, dass Róbertas Computer
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