öffnete die Mail erwartungsvoll.
Er musste blinzeln und den Text noch einmal lesen, um sich sicher zu sein, dass er ihn richtig verstanden hatte. Der Absender hatte alles mit Großbuchstaben geschrieben, was die Nachricht noch dringender und wichtiger machte.
DU MIESE ALTE SCHNÜFFLERIN. LASS ES SEIN.
SONST WIRST DU ES BEREUEN.
Rasch sortierte Óðinn die Mails nach Absendern und sah, dass Róberta weitere sieben Mitteilungen ähnlicher Art bekommen hatte, alle von derselben Adresse, die sich nicht identifizieren ließ:
[email protected]. Warum hatte sie das nicht gemeldet? Oder hatte sie es getan, und Óðinn wusste nichts davon? Keine dieser Mails war weitergeleitet worden, also hatte sie diese Ungeheuerlichkeit wahrscheinlich für sich behalten. Óðinn sortierte die Mails nach Datum.
Es fing ganz höflich an. In der ersten Mail wurde Róberta freundlich gebeten, keine Auskünfte über Krókur einzuholen. Das bringe niemandem etwas, am allerwenigsten denen, die dort untergebracht gewesen seien. Die hätten fast vierzig Jahre später kein Interesse mehr an der Sache. Róberta hatte in dem üblichen Behördenstil darauf geantwortet. Man werde die Untersuchung nicht abbrechen, es bestehe aber die Möglichkeit, offiziell Beschwerde einzulegen, zu der man dann Stellung nehmen werde. Das war wie Öl ins Feuer zu gießen. Die Empörung des Absenders wurde immer größer und seine Drohungen gegen Róberta immer abartiger. Schnell leitete Óðinn die Mails an seine eigene Adresse weiter. Er wollte sie nicht unbedingt im Büro lesen, wenn sonst niemand da war.
Plötzlich fühlte er sich genauso komisch wie zu Hause. Er konnte die Einsamkeit förmlich spüren, und als er aufstand und über die Trennwand schaute, sah er Schatten unter Möbel und Einrichtungsstücke huschen. Es war, als seien sie hervorgekrochen, um das wenige Licht zu besiegen, hätten sich dann aber wieder zurückgezogen, als er sie bemerkt hatte. Óðinn bereute es, nur an seinem eigenen Arbeitsplatz das Licht eingeschaltet zu haben. Als er in der Teeküche etwas rascheln hörte, schaltete er Róbertas Computer aus und machte sich auf den Heimweg. Während hinter ihm die Tür ins Schloss fiel, war er sich sicher, im Büro einen Stuhl rollen zu hören. Erst als er in der Nähe der Wohnung seiner Schwiegermutter in einem Kiosk saß, fühlte er sich endlich wieder normal. Dort gab es keinen Kaffee, den er jetzt wirklich gebraucht hätte, deshalb kaufte er eine Cola und eine Zeitung. Nachdem er jedes einzelne Wort inklusive der Kleinanzeigen gelesen hatte, ließ er es gut sein, verließ den Kiosk und holte Rún ab. Zum Teufel damit, dass er zwanzig Minuten zu früh war. Rún würde sich freuen.
Als ihre Großmutter ihm die Tür aufmachte, kam seine Tochter angelaufen und sprang ihm auf den Arm. Die Alte war weniger begeistert.
»Du bist aber früh«, pampte sie mit abweisendem Gesicht.
»Ja, die Wettervorhersage ist sehr schlecht, und ich wollte nicht Gefahr laufen, mich festzufahren. Ich habe keinen Jeep.«
»Wann ist die Wettervorhersage mal nicht schlecht? Hoffentlich vergeht nicht wieder ein Monat bis zu eurem nächsten Besuch.«
»Nein, nein, hoffentlich nicht«, entgegnete Óðinn und versuchte Rún zu signalisieren, dass sie schnell ihre Schuhe anziehen solle. Er lächelte seiner Schwiegermutter nervös zu, die mit verschränkten Armen vor ihm stand, viel zu dünn und noch verhärmter, als er sie je gesehen hatte. Es gab so vieles, was er sie fragen wollte, aber nicht konnte, wenn Rún dabei war. Er wusste, dass sie Lára sehr nahegestanden hatte, immerhin hatte sie sie alleine großgezogen. Er nahm an, dass Lára nach der Scheidung Trost bei ihrer Mutter gesucht hatte, weshalb diese Frau am allermeisten über Láras Leben vor dem Unfall wusste. Wahrscheinlich konnte sie die Beziehung zwischen Lára und Logi bis ins kleinste Detail beschreiben und gut einschätzen, ob es auch nur den Hauch einer Möglichkeit gab, dass er sie im Affekt aus dem Fenster gestoßen hatte.
Doch solange Rún in der Nähe war, konnte Óðinn das auf keinen Fall ansprechen, und er wollte sich nicht mit seiner Schwiegermutter verabreden, um unter vier Augen darüber zu reden. Neben Dingen über Logi hätte er gerne Genaueres über die Situation gewusst, aus erster Hand gehört, wie Rún reagiert hatte, ob es denkbar war, dass sie in der Wohnung jemanden bemerkt hatte, ohne davon erzählt zu haben, vielleicht aus Angst, ihr könne dasselbe zustoßen wie