Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
hielt ihn fest. Er war viel stärker, als er aussah, und Aldís erschrak. »Du bist irgendwie anders. Du bist nicht in einer Warteposition.«
War das gut oder schlecht? Wenn er recht hatte, lag das daran, dass sie außerhalb des Heims keinen Zufluchtsort mehr hatte. Auf ihn warteten Freunde – und seine Mutter. Auf sie wartete niemand. Sogar ihre beste Freundin war wahrscheinlich nicht mehr für sie da. Aldís betrachtete die Hand an dem Besenstiel.
»Ich muss weitermachen. Gleich gibt es Abendessen, da muss ich helfen«, sagte sie dann.
Einar ließ los und zog seine Beine wieder aufs Bett. Er schwieg, und Aldís traute sich nicht, sich länger mit ihm zu unterhalten. Es gab so vieles, was sie über ihn wissen wollte, aber sie hatte Angst, dass ihr etwas Ungeschicktes herausrutschte. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, den Boden zu Ende zu fegen, und bückte sich, damit sie besser unters Bett kam. Als der Besen fast ganz hinten an der Wand war, stieß er auf einen schweren und zugleich weichen Widerstand. Er gab auf unangenehme Weise nach und erinnerte an nichts, was sie sonst unter den Betten der Jungen fand. Kleider waren leichter und Zeitschriften, Bücher und Schuhe fester. Aldís warf Einar einen schnellen Blick zu, aber sein Gesicht war ausdruckslos. Keiner von ihnen sagte etwas, aber sie wusste, dass ihr Gesichtsausdruck verriet, dass etwas nicht stimmte.
Die peinliche Stille führte dazu, dass Aldís nicht unters Bett schauen oder den Gegenstand mit dem Besen hervorholen wollte, andererseits war das besser, als wie bestellt und nicht abgeholt neben Einars Bett stehen zu bleiben. Als sie sich herunterbeugte, fuhr sie heftig zurück. Unter dem Bett war nichts zu sehen. Es roch merkwürdig, wie feuchtes Moos oder Erde, aber sonst war alles ganz normal. Sie richtete sich wieder auf, schaute dann noch einmal unters Bett, sah aber nichts als Dunkelheit bis zur Wand. Nichts, das diesen Widerstand hätte erzeugen können. Der Geruch war jetzt stärker und roch nun auch faulig. Wie ein Fischfilet, das einen Tag zu lange in der Küche gelegen hatte.
Anstatt Einar zu bitten, nachzusehen und ihr zu sagen, ob er das auch roch, hielt Aldís lieber den Mund – ihr Gefühl sagte ihr, dass er nichts riechen würde. Schnell fegte sie zu Ende, ohne den Besen noch einmal unter das Bett zu schieben, und ging aus dem Raum. Als sie die Tür hinter sich zuzog, murmelte sie etwas, und Einar murmelte etwas zurück. Auf dem Weg zur Küche konnte sie nur an eins denken: dass der Besen gegen Liljas totes Baby gestoßen war, verschmiert mit Blut, das jetzt getrocknet und schwarz war, mit offenen, glänzenden Augen, die jetzt mit einem grauen Schleier überzogen waren. Mit Schimmel. Aldís zog die Ärmel über ihre Hände, um die Kälte zu vertreiben. Was war nur mit dem Kind geschehen?
8. Kapitel
Óðinn meinte, den Staub fallen zu hören. Bisher hatte er immer gedacht, er könne bei jeglichen Bedingungen arbeiten, aber jetzt kam er mit der Stille im Büro nicht klar. Das Gequatsche seiner Kollegen ging ihm zwar meistens auf die Nerven, doch jetzt vermisste er es und konnte sich nur schwer konzentrieren. Er hatte sich eingeredet, an einem Samstag im Büro alles wegarbeiten zu können, wozu er in der Woche nicht gekommen war. Doch das war nur ein Vorwand – das wusste er selbst am besten. Er hatte gar nichts Dringendes zu erledigen.
Wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er nur dort saß, weil er nicht alleine in der Wohnung sein wollte, während Rún bei ihrer Oma war. Zu Hause konnte er sich nicht entspannen, war ständig in Habtachtstellung und bekam bei jedem Geräusch und jeder Bewegung eine Gänsehaut. Da war es besser, im Büro herumzuhängen. Am liebsten hätte er den Nachmittag mit seiner Tochter verbracht, wäre mit ihr ins Kino oder Eisessen, vielleicht sogar in den Haustierzoo gegangen, aber es ließ sich nicht vermeiden, sie zu ihrer Großmutter zu schicken – sonst wäre es das vierte Wochenende hintereinander gewesen, an dem Rún und er sich mit fadenscheinigen Entschuldigungen davor gedrückt hätten. Rún hatte wie üblich protestiert, aber am Ende klein beigegeben, und nun saßen Vater und Tochter an unterschiedlichen Orten in der Stadt, schauten ständig auf die Uhr und hofften, dass die Zeiger sich schneller bewegen würden. Vielleicht wäre ihm der Tag kürzer vorgekommen, wenn er wirklich etwas Dringendes zu erledigen gehabt hätte.
Wie um zu unterstreichen, dass er am Wochenende
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