Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
schwarzen Augen in seinem bleichen Gesicht aufblitzen.
»Ich rede nicht mit dir«, sagte er.
Im selben Moment merkte Aldís, dass sie nicht alleine im Haus waren. Das Licht im Flur flackerte, und eine Sekunde später war alles dunkel.
10. Kapitel
»Wenn Sie mal vergleichen, wie es Ihnen jetzt geht und wie es Ihnen ging, bevor Sie Ihre Tochter zu sich nahmen, was fällt Ihnen dann auf? Sind Sie glücklicher, ängstlicher oder gereizter? Manchmal trifft auch alles gleichzeitig zu.«
Die Psychotherapeutin, die Nanna hieß, fixierte Óðinn, als spiele diese Frage für sie persönlich eine sehr wichtige Rolle. Entweder war sie in diesen Spielchen wirklich routiniert oder einfach überaus sympathisch. Zwar stand auf ihrer Visitenkarte Kinderpsychologin , aber sie schien sich auch mit Erwachsenen ganz gut auszukennen. Auf Óðinns Nachfrage hin hatte sie sich bereit erklärt, Rún in Therapie zu nehmen, wollte aber erst ihn kennenlernen. Sie müsse erst mehr über die familiäre Situation erfahren, wobei ihre Fragen ziemlich ähnlich waren wie die, die Óðinns Therapeut vor einem halben Jahr gestellt hatte. Dennoch ging Óðinn darauf ein und ließ sie in denselben wunden Punkten bohren. Dabei kriegte die Frau es ungewöhnlich gut hin, dieses Verhör als Gespräch zwischen zwei Gleichgestellten zu tarnen, weshalb es nicht ganz so schlimm war. Nanna war jung und hübsch, und Óðinn fand es ganz nett, ein Stündchen mit ihr zu plaudern. Er hätte sich nur gerne besser auf ihre Fragen vorbereitet, aber sie hatte schon am selben Tag, als er sie angerufen hatte, einen freien Termin gehabt.
»Ich glaube, ich bin ruhiger geworden, aber sonst habe ich da nicht viel drüber nachgedacht«, antwortete Óðinn knapp und versuchte dann etwas ausführlicher zu werden. »Ich habe keine besonderen Ängste, außer vielleicht davor, wie ich mich verhalten soll, wenn Rún in die Pubertät kommt und irgendwelche dummen Jungs anschleppt. Ansonsten wird das ganz gut laufen mit uns, glaube ich. Und es ist noch viel zu früh, um zu sagen, ob man glücklicher oder trauriger ist, wir sind ja noch dabei, uns aneinander zu gewöhnen.«
»Waren Sie im Allgemeinen früher glücklicher?«
»Ja. Nein. Es war einfach anders, ich musste nur an die Arbeit und an mich selbst denken. Dann ist es nicht schwer, sich gut zu fühlen. Wobei der Druck in meinem früheren Job viel, viel größer war, aber damit bin ich gut klargekommen. Vielleicht, weil ich Herr meiner selbst war, wenn man das so sagen kann.«
»Das war für Sie beide eine große Veränderung. Für Ihre Tochter ist eine ganze Welt zusammengebrochen, und bei Ihnen ist es der neue Job, die neuen Lebensumstände, die Trauer«, sagte Nanna und stellte keine weiterführende Frage wie sonst. Sie lächelte ihm freundlich zu und strich sich ihr lockiges Haar hinter die Ohren. Óðinn bemerkte, dass sie ein tiefes Grübchen in der einen Wange hatte, wenn sie lächelte, während die andere ganz glatt blieb. Als wäre die eine Seite mehr amüsiert als die andere.
»Das klingt schlimmer, als es ist. Glaube ich zumindest. Ehrlich gesagt, ist so viel in so kurzer Zeit passiert, dass es in der Erinnerung verblasst. Ich konnte bisher nicht richtig mit Rún darüber sprechen und kann nur raten, wie es für sie gewesen sein muss. Ich habe es versucht, wollte sie aber nicht drängen. Das ist meine Schuld, ich bin immer froh, wenn sie das Thema wechselt, und zwinge sie nicht, genauer auf die Dinge einzugehen, die passiert sind. Ich kann das einfach nicht und habe Angst, sie noch mehr zu verwirren.«
»Sie müssen nicht raten, was sie denkt oder dachte. Das bekomme ich schon aus ihr heraus. Aber sagen Sie, haben Sie nach dem Unfall schlecht geschlafen?«
»Ja, ziemlich.« Obwohl der Unfall noch nicht so lange her war, konnte Óðinn sich nicht richtig erinnern. »Ich denke nicht so viel an diese Zeit, aber kürzlich habe ich Schlaftabletten gefunden und da fiel mir wieder ein, dass ich kurz nach Rúns Einzug schlecht geschlafen habe. Aber die Tabletten habe ich trotzdem nie genommen. Ich halte nicht viel davon. Habe mich einfach damit abgefunden, wenig und schlecht zu schlafen. Vielleicht war das ein Fehler.«
Óðinn ging plötzlich durch den Kopf, dass sein Gehirn damals durch das Wachliegen vielleicht Schaden genommen habe und er deshalb jetzt eine so starke Einbildungskraft besitze. Würden ihn jetzt Halluzinationen und dieses überempfindliche Gehör bis an sein Lebensende begleiten? Er schluckte und
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