Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
leise, um zu erkennen, ob es sich um Worte oder nur um ein Murmeln oder Röcheln handelte. Doch Aldís hatte genug gehört, um zu wissen, dass es nicht angsteinflößend war. Dafür klang es viel zu elend. Sie tastete sich ein kleines Stück weiter. Vielleicht war es ein Tier, eine verwilderte Katze oder ein Hund, der im Speiseraum Zuflucht gesucht hatte.
Aber Tiere öffneten keine Türen und trugen keine Schuhe.
Draußen heulte der Wind wie zum Zeichen, dass der Sturm seinen Höhepunkt erreicht hatte. Dann knallte die Tür mit voller Wucht gegen ihre Seite. Während Aldís ihren schmerzenden Arm massierte, fiel die Tür mit lautem Knallen zu. Aldís biss sich auf die Lippen. So ein Unsinn, natürlich bestand keine Gefahr, ihre Phantasie spielte einfach nur verrückt. Im Haus war jemand oder etwas, das ihr nichts tun wollte – sie musste es nur finden und hinausbefördern. So einfach war das. Die Spuren stammten von einer Person, also gab es keinen Grund zu der Annahme, dass dort eine Horde Jungen herumstromerte. Es sei denn, sie trugen Socken. Hatten im Vorraum Schuhe gestanden? Mit einem käme sie wahrscheinlich klar, zumal sie älter war als die Jungen, aber niemals mit zweien, dreien oder noch mehreren gleichzeitig. Mit diesem Gedanken betrat sie den Flur und schaltete das Licht ein, bevor sie weiterging. Ihre Schritte waren tastend und kurz und entsprachen keineswegs der Beherztheit, die sie sich vorgaukelte.
»Wo bist du?«
Keine Antwort. Aldís überlegte, wo sie anfangen sollte zu suchen, merkte aber sofort, dass das offensichtlich war. Die Spuren führten durch den endlos langen Flur. Sie wurden immer schwächer, führten aber eindeutig zu der Tür zum Speiseraum. Warum war die Person dorthin gegangen? Da gab es nur Tische und Stühle, eine Anrichte mit abgenutzten Tischdecken und Ähnlichem. Falls dort ein Dieb auf der Suche nach Wertgegenständen war, hatte er sich das falsche Haus ausgesucht. Hier gab es nichts Wertvolles.
Aldís schlich auf die Tür zum Speiseraum zu. Wenn sie den Eindringling überraschte, hätte sie einen kleinen Vorsprung und würde es bestimmt schaffen, sich umzudrehen und wegzurennen. Fünf Schritte, vier Schritte, drei Schritte. Das Licht flackerte, ging aber nicht aus. Aldís hielt die Luft an und trat unbeabsichtigt fester auf. Wenn jemand da drinnen war, musste er sie gehört haben. Sie blieb stehen und wartete, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte, als sie plötzlich wieder ein Geräusch hörte. Dasselbe leise Röcheln wie eben, doch jetzt war sie näher daran und konnte es besser hören. Es musste einer der Jungen sein, aber seine Stimme war so heiser und leise, dass sie sie nicht erkennen konnte. Vielleicht hatte er sich verletzt, sich den Kopf angestoßen, war durcheinander und zufällig im Speiseraum gelandet. Im Flur war kein Blut oder sonst etwas zu sehen, das auf eine Verletzung hinwies.
Das Geräusch ertönte erneut, und jetzt erkannte Aldís Worte in einem flehenden Tonfall. Sie glaubte, den Jungen sagen zu hören: »Geh weg, geh weg.« Meinte er sie damit, oder sprach er womöglich im Schlaf? Niemand hatte ihr gesagt, dass einer der Jungen Schlafwandler sei, aber man verheimlichte ihr ja ohnehin alles Mögliche. Die Worte wiederholten sich, und diesmal bestand kein Zweifel: »Geh weg, geh weg.« Der Junge wurde lauter und schien in Panik zu sein. War etwa noch jemand im Raum? Die Jungen hatten keine große Angst vor ihr, und da sie mehrmals durch den Flur gerufen hatte, war eigentlich klar, dass sie es war.
Das Licht flackerte wieder. Aldís riss sich zusammen und ging die letzten zwei Schritte zur Tür. Sie wollte auf keinen Fall im Dunkeln stehen, ohne zu wissen, was sich dahinter befand. Der Lichtschalter im Speiseraum befand sich nicht direkt neben der Türöffnung, weshalb Aldís das Licht dort nicht einschalten konnte, wenn sie in den Raum spähte. Das Licht aus dem Flur musste reichen. Trotz der trüben Beleuchtung sah sie, dass am letzten Tisch im Schatten ein Junge saß. Er drehte ihr den Rücken zu, aber sie konnte erkennen, dass es einer der Jüngeren war. Sie erschauerte, als er wieder anfing zu sprechen, ohne sich umzudrehen, als hätte er Augen am Hinterkopf.
»Geh weg und lass mich in Ruhe!«
»Komm mal her, du dürftest eigentlich gar nicht hier sein«, sagte Aldís ruhig und war sich ziemlich sicher, dass der Junge nicht ganz bei Sinnen war. Nicht gefährlich, nur durcheinander.
Da drehte er sich um, ganz langsam, und Aldís sah die
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