Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Glück hatte sie Rún keinen Kugelschreiber gegeben, denn sie drückte die Spitze immer so fest auf, dass die Bilder sich auf der Tischplatte abgezeichnet hätten.
»Willst du die Bilder mit rübernehmen? Ich habe dich lieber in meiner Nähe, wenn ich arbeite. Hier bist du so weit weg, da könntest du genauso gut zu Hause sein.«
Óðinn hatte Rún in Róbertas Box geschickt, damit sie in Diljás Nähe war, doch jetzt bereute er es, sie auf den Platz einer Verstorbenen gesetzt zu haben. Genau dorthin, wo Róberta ihren letzten Atemzug gemacht hatte.
»Komm, Schatz, wir gehen rüber. Ich muss noch ein bisschen arbeiten, und dann können wir gehen«, fügte er hinzu. Er hatte ihr versprochen, früher Schluss zu machen, damit sie nicht den ganzen Tag im Büro verbringen musste, und daran wollte er sich auch halten.
»Wer ist das?«, fragte Rún und zeigte mit ihrem bleichen Finger auf das Foto von den zwei Jungen, die im Erziehungsheim gestorben waren.
Óðinn schluckte.
»Nur zwei Jungen. Von früher.«
»Wie heißen sie?« Rún schaute ihren Vater fragend an, ohne den Finger zu senken.
»Einar und Tobbi.«
Obwohl Pyttis Geschichte über den Tod der beiden Jungen ziemlich unglaubwürdig klang, bekam Óðinn sie nicht aus dem Kopf. Wie sollte er in seinem Bericht damit umgehen? Die Geschichte einfach weglassen? Wenn er sie wiedergab, säße er wahrscheinlich kurz nach Erscheinen des Berichts beim Arbeitsamt, um sich einen neuen Job zu suchen. In einem offiziellen Dokument wollte niemand Klatschgeschichten über ein totes Baby lesen, das irgendwo in Krókur vergraben sein sollte. Óðinn verstand auch nicht, was die Sache mit dem Schicksal der beiden Jungen zu tun haben sollte – es war schon schwierig genug, ihr Schicksal genau zu ergründen, auch ohne einen toten Säugling. Am Ende hatte er den Kern von Pyttis Geschichte immerhin einigermaßen verstanden: Das Auspuffrohr des Wagens war nicht mit Schnee verstopft gewesen. Die Jungen waren erstickt, weil jemand einen Lappen in den Auspuff gesteckt hatte. Pyttis Theorien über den Täter waren genauso wirr wie andere Details der Geschichte: entweder war es das Heimleiterehepaar, einer der Arbeiter oder einer der Jungen. Der Grund für die Tat lag im Dunkeln, und Óðinns Versuche, etwas darüber aus dem Mann herauszubekommen, wurden lediglich mit einem leeren, starren Blick quittiert. Es war wie immer bei Verschwörungstheorien: eine verworrene, unklare Geschichte, die bestimmt nicht der Wahrheit entsprach. Doch die Genauigkeit bezüglich des Putzlappens ließ darauf schließen, dass vielleicht doch ein Fünkchen Wahrheit daran war.
»Warum hängt das hier an der Wand?«, fragte Rún, die immer noch das alte Foto anstarrte.
»Ich weiß es nicht. Das ist nicht mein Arbeitsplatz. Vielleicht fand die Frau, die hier saß, das Bild schön.«
»Die Jungen schauen einen an.« Rún senkte ihren Blick und verzog das Gesicht. »Ihre Augen verfolgen einen.«
»Das scheint nur so, weil sie in die Kamera blicken.«
Óðinn machte einen Schritt zur Seite, und die Augen der Jungen schienen ihm tatsächlich zu folgen. Er kam sich zwar ein bisschen albern vor, hatte aber tatsächlich das Gefühl, als würden sie gespannt darauf warten, was er als Nächstes machen würde, ob er der Wahrheit über ihr Schicksal auf den Grund gehen würde. Óðinn hätte sich am liebsten zu dem Foto gedreht und den Jungen gesagt, dass ihm ein mysteriöser Todesfall schon reiche. Stattdessen bemühte er sich, Rún aus der Box zu locken.
»Nun komm schon, in der Teeküche gibt es Saft. Du musst etwas trinken.«
Doch Rún bewegte sich nicht von der Stelle.
»Wo ist denn die Frau, die hier gearbeitet hat? Hat sie aufgehört, so wie der Mann an dem anderen Schreibtisch?«, fragte sie.
»Ja, sie hat aufgehört.«
»Aber warum hat sie ihre Sachen nicht mitgenommen? Der andere hat gar nichts hiergelassen.«
»Dafür hatte sie keine Zeit. Das wird bald weggeräumt«, antwortete Óðinn, drehte den Stuhl herum und musste sich beherrschen, Rún nicht hochzuziehen.
»Das ist nicht Róbertas Stuhl«, sagte Diljá, die mit einer Kaffeetasse in der Hand wieder an ihrem Schreibtisch stand. Sie hatte frischen Lippenstift aufgelegt, und Óðinn musste zugeben, dass sie toll aussah. Für einen Augenblick beneidete er diesen Denni, der nach der Betriebsfeier mit ihr nach Hause gegangen war. Doch als sie weitersprach, kam er wieder zu sich.
»Ich habe ihn mit Dennis Stuhl ausgetauscht. Er hat sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher