Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
gewesen war. Aldís hatte zu große Angst, ihre Mutter könnte keinen versöhnlichen Ton angeschlagen haben, um in der Kaffeepause auf ihr Zimmer zu gehen, den Umschlag aufzureißen und den Brief zu lesen. Lieber wartete sie damit bis nach der Arbeit.
»Bist du irgendwie sauer auf mich?«
Einar stand plötzlich neben ihr, als sich Aldís in der Stube, in der die christlichen Zusammenkünfte abgehalten wurden, über das Kehrblech beugte. Als sie im Heim angefangen hatte, war sie auch erst zu den Treffen gegangen – nicht aus dem Bedürfnis heraus, Gottes Wort zu hören, sondern um ein bisschen Abwechslung in den eintönigen Alltag auf dem Hof zu bringen. Veigar und Lilja hatten gestrahlt, als sie hinter den Jungen Platz nahm, doch ihre Freude währte nur kurz, denn Aldís nahm nur dreimal an den Zusammenkünften teil. Sie konnte das Geleier und die Bibelzitate, die die beiden mit beseelten Gesichtern auf die Jungen losließen, nicht ertragen. Seitdem betrat sie die Stube nur einmal in der Woche, um zu putzen.
»Nein«, antwortete Aldís und richtete sich auf. »Warum sollte ich sauer auf dich sein?«
»Du warst heute Mittag so komisch.«
»Ich bin einfach nicht gut drauf, aber das hat nichts mit dir zu tun.«
Einar streckte die Hand aus, als wolle er ihr Gesicht berühren, hielt dann aber inne. Er schob die Hand in seine Hosentasche, wie um das nicht noch einmal zu tun, und wiegte sich auf der Stelle.
»Tobbi hat es mir heute Morgen erzählt. Das wollte ich dir nur sagen. Veigar und Lilja sind schwachsinnig. Total schwachsinnig.«
Dem konnte Aldís nicht widersprechen, auch wenn sie ihm nicht laut beipflichtete. Sie wusste nicht, ob sie ihn bitten sollte, sie in Ruhe zu lassen, oder sich über seine Gesellschaft freuen sollte.
»Warum hat er es dir erzählt?«, fragte sie.
»Ich hab ihn heute Morgen zu dir rüberrennen sehen, nachdem er schon in aller Herrgottsfrühe zur Straße gelaufen war. Eigentlich hätte er gestern gehen sollen, aber sie haben vergessen, ihn zu schicken. Ich wusste nicht, was er im kleinen Haus wollte, und hab ihn einfach gefragt. Es ist nicht schwer, ihn zum Reden zu bringen.«
Natürlich nicht. Tobbi war dreizehn und Einar fast neunzehn, fast ein erwachsener Mann, der bestimmt keine Schwierigkeiten hatte, einen kleinen Jungen zum Reden zu zwingen. Doch dazu konnte Aldís nichts sagen, ohne zuzugeben, dass sie in seine Geldbörse geschaut hatte, und das wollte sie auf keinen Fall. Später vielleicht, aber nicht jetzt.
»Hast du ihn gefragt, ob er auch Briefe an dich gesehen hat?«
»Nein, habe ich nicht.« Einar war ein schlechter Lügner, und das wussten sie beide. Als wolle er nicht weiter von ihr ausgefragt werden, fügte er schnell hinzu: »Wenn das Wetter gut ist, schleiche ich mich heute Abend raus. Spaziere ein bisschen durch die Gegend und genieße meine Freiheit. Willst du vielleicht mitkommen? Wenn ich Ärger kriege, verspreche ich dir, mit keinem Wort zu erwähnen, dass du dabei warst.«
»Wie willst du denn rauskommen?«, fragte Aldís, um die Antwort hinauszuzögern. Sie wusste genau, dass es kein Problem war, aus dem Anbau auszubrechen.
»Das kriege ich schon noch raus«, sagte er lächelnd, aber sein Lächeln reichte nicht zu seinen Augen. »Und? Was sagst du? Kommst du mit? Wir können so weit laufen, dass du dich heiser brüllen kannst. Manchmal tut es gut, seine Wut einfach rauszuschreien.«
Aldís fingerte am Griff des Kehrblechs herum, während sie überlegte, was sie antworten sollte. Wenn das rauskäme, könnte sie einen Riesenärger bekommen und sogar ihren Job verlieren. Na und? Selbst wenn sie Veigar und Lilja bei der Bewerbung um einen neuen Job nicht als Referenzen angeben könnte, würde die Welt davon nicht untergehen. Außerdem war keineswegs gesagt, dass sie ein gutes Zeugnis von ihnen bekäme, selbst wenn sie ihre Arbeit gut machte. Dann würde sie eben einfach früher als geplant nach Reykjavík gehen.
»Ich komme mit. Wo und wann sollen wir uns treffen?«
Einar strahlte. Nachdem sie einen Ort und eine Zeit verabredet hatten, ging er raus, drehte sich in der Tür noch einmal um und blinzelte ihr verschwörerisch zu. Ehe sie zurückblinzeln konnte, war er schon weg.
Bevor Aldís die Stube verließ, konnte sie sich nicht beherrschen, das Kehrblech unter den Teppich unter Liljas und Veigars Altar zu leeren.
Aldís hatte schon ihre Jacke angezogen und wollte gerade raus in die Dunkelheit, um Einar zu treffen, als sie endlich den Brief
Weitere Kostenlose Bücher