Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
aufmachte. Sie hatte lange auf dem Bett gesessen und den unschuldigen Briefumschlag auf der Tagesdecke angestarrt, ihn dann plötzlich zu sich gezogen und aufgerissen. Nun saß sie mit dem Brief auf dem Schoß da und starrte ihn an, ohne die schwarzen Buchstaben zu entziffern, die sich in schnurgeraden Linien über das Blatt zogen, als hätte ihre Mutter ein Lineal benutzt, damit kein Wort abhandenkam. Dann holte Aldís tief Luft und fing an zu lesen.
Meine liebe Aldís,
ich hoffe, dass du meine Briefe gelesen hast, auch wenn ich keine Antwort von dir erhalten habe. Meine größte Angst ist, dass du sie ungeöffnet wegwirfst, wenn du siehst, von wem sie kommen. Doch wenn du das hier liest, dann flehe ich dich erneut an, dich zu melden, anzurufen oder zu schreiben, und seien es auch nur ein paar Worte.
Wie ich dir bereits schrieb, ist Lárus weg, du musst also keine Angst haben, dass er das Telefon beantwortet oder dahinterkommt, wenn du mir schreibst.
Ich vermisse dich unbeschreiblich und gäbe alles dafür, die Zeit zurückdrehen zu können und meine Reaktion ungeschehen zu machen. Aber das sind nur leere Worte, ich habe dich enttäuscht und muss damit leben und versuchen, es wiedergutzumachen. Seit du geboren wurdest, gabst du meinem Leben einen Sinn, warst das Einzige, das mir Glück und Freude schenkte. Ohne dich ist mein Leben wertlos.
Bitte melde dich, meine geliebte Aldís, die Unsicherheit über deinen Aufenthaltsort und dein Befinden zermürbt mich. Ich liebe dich und werde dich immer lieben und flehe dich an, mir die paar Sekunden, die ich an deiner Glaubwürdigkeit zweifelte, zu verzeihen und stattdessen an all die Jahre zu denken, in denen meine wirklichen Gefühle für dich allgegenwärtig waren.
Deine Mama
Aldís legte den Brief weg. Am liebsten wollte sie ihn noch einmal lesen, tat es aber nicht. Um sich darüber klarzuwerden, was sie davon halten sollte, musste sie die vorherigen Briefe haben. Wann hatte ihre Mutter gemerkt, dass sie die Wahrheit gesagt hatte? Hatte sie den verdammten Scheißkerl rausgeschmissen, oder war er abgehauen? Und hatte sie es erst dann wirklich bereut? Anstatt ihre Gedanken zu ordnen, stand Aldís auf und ging raus. Sie hatte noch zehn Minuten bis zu ihrer Verabredung mit Einar und wollte noch eine Flasche aus der Vorratskammer stibitzen. Sie hatte sonst nie Lust auf Alkohol, er schmeckte ihr nicht, und sie verabscheute es, zu wanken und zu lallen. Normalerweise. Aber jetzt war es passend. Selbst wenn das dazu führen würde, dass sie etwas tat, was sie später bereute. Wobei man sich nur schwer vorstellen konnte, was ihre Lage noch weiter verschlimmern würde, oder?
15. Kapitel
»Wir hatten gehofft, du würdest länger wegbleiben«, sagte Diljá, blinzelte Rún zu und lächelte Óðinn an. Ihr Lippenstift war verblasst, seit Óðinn weggefahren war. Das konnte nur bedeuten, dass sie sich gut um Rún gekümmert hatte und noch nicht einmal zum Spiegel in der Toilette gehuscht war, wie sie es sonst immer machte. Óðinn war hin- und hergerissen zwischen Dankbarkeit für ihr Pflichtbewusstsein und Angst vor deren möglichen Ursachen. Was hatte Diljá seiner Tochter erzählt, während er weg war?
»Soll ich einfach wieder gehen? Wollt ihr das?«, fragte Óðinn scherzhaft. Rún schaute ihn mit unergründlichem Gesicht an, und er fürchtete, dass sein Versuch, witzig zu sein, in die Hose gegangen war. Er strich ihr leicht durchs Haar, damit sie wusste, dass er das nicht ernst gemeint hatte. »Und ich dachte, ich wäre unentbehrlich!«
»Nicht ganz«, sagte Diljá und blinzelte Rún verschwörerisch zu. Als sie ihre Handtasche nahm, schien ihre rechte Körperhälfte nach unten gezogen zu werden. Óðinn hatte sich schon oft darüber gewundert, was Frauen ständig mit sich herumschleppten. Und dann fanden sie in diesen schwarzen Löchern trotzdem nie das, was sie suchten. »Pass auf meinen Platz auf, Rún. Ich hole mir nur einen Kaffee, bin gleich wieder zurück. Wollt ihr auch was?«
Sie lehnten dankend ab, und Óðinn sah Diljá auf dem Weg zur Toilette hinterher.
»Worüber habt ihr geredet?«, fragte er seine Tochter.
Rún zuckte die Achseln.
»Nichts Besonderes. Ich hab nur gemalt.«
Auf dem Tisch in Róbertas Box lagen eine Menge Buntstift-Zeichnungen verstreut. Óðinn wusste nicht, wo Diljá die Stifte ausgegraben hatte, jedenfalls gehörten sie nicht zur Grundausstattung ihres Büromateriallagers. Vielleicht hatten sie in Róbertas Schubladen gelegen. Zum
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