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Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Titel: Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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in der Gruppe geben könnte. Der würde dann sofort gewaltsam niedergeschlagen, und am Ende wären die Jungen noch schlechter dran als vorher. Einmal hatte sie Lilja darauf angesprochen, aber nur zur Antwort bekommen, dass es so am besten sei, da manche Jungen nie Post bekämen und sonst traurig oder neidisch würden. Demnach sollte es allen gleich schlechtgehen. Aldís hatte der Mut gefehlt, ihre Meinung dazu zu sagen.
    »Ich hab hier was für dich«, sagte Tobbi, zog etwas aus seiner Hosentasche und hielt es ihr hin. Es war ein Umschlag, zusammengefaltet, aber nicht zerknittert.
    Aldís’ Wut flaute ab. Sie sagte nichts, starrte nur den gefalteten Umschlag an. Sie hatte nie den Verdacht gehegt, genauso behandelt zu werden wie die Jungen. Bevor sie die Hand ausstreckte, fragte sie leise:
    »Habe ich schon öfter Briefe bekommen, die Lilja und Veigar einkassiert haben?«
    Tobbi nickte, und eine leichte Schamröte stieg ihm ins Gesicht. Aldís warf einen kurzen Blick auf die Adresse und erkannte die Handschrift sofort.
    »Diese Briefe an mich, waren die alle in derselben Handschrift?«
    »Ich glaube schon, aber ich bin mir nicht sicher.« Tobbi trat von einem Bein aufs andere. Er schaute ihr immer noch nicht in die Augen.
    Aldís riss ihm den Umschlag aus der Hand. Er war schwerer, als sie erwartet hatte, aber doch nicht schwer genug, um etwas anderes als Papier zu enthalten. Sie hatte einen Kloß im Hals, trat einen Schritt zurück und schlug Tobbi die Tür vor der Nase zu, ohne sich zu bedanken oder ihm ins Gewissen zu reden, endlich die Wahrheit über die Vorfälle im Speiseraum zu sagen. Dafür war sie zu müde, wütend und traurig.
    Sie kannte die säuberlich geschriebenen Buchstaben so gut wie ihre eigene Schrift. Der Umschlag brannte in ihren Fingern, und sie hätte ihn am liebsten in die Ecke gepfeffert. Die Zeit dafür hätte nicht schlechter sein können, wo sie sich ohnehin schon nach der durchwachten Nacht so mies fühlte – zumal sie über ihre Mutter nachgedacht hatte und wie enttäuscht sie von ihr war. Das musste ein Wink des Schicksals sein, jenes Schicksals, das ihr in der Nacht höhnisch zugeflüstert hatte, sie hätte keinen Einfluss auf ihre eigene Zukunft.
    Aldís stopfte den Umschlag in ihre Hosentasche und verließ den Raum. Trotzig rieb sie sich die Augen. Den Brief würde sie später lesen.

    Manchmal war die Wut kein schlechter Begleiter. Aldís spürte in sich eine Entschlossenheit, von der sie fast vergessen hatte, dass sie sie besaß. Die anderen schienen zu merken, dass etwas nicht stimmte, und Lilja vermied es überraschenderweise, mit ihr zu reden oder ihr Anweisungen zu geben. Sie hielt sogar den Mund, als sie sah, dass Aldís sich zwei Scheiben Brot für den Vogel in die Tasche steckte. Bisher hatte sie heimlich Brotkrusten für ihn mitgehen lassen, aber jetzt war ihr Liljas Reaktion vollkommen egal. Aldís war sich sicher, dass sie total ausrasten würde, wenn Lilja auch nur in ihre Richtung atmen würde. Es wäre zwar nicht schlecht, mal alles herauszulassen, doch danach wäre die Zusammenarbeit mit Lilja bestimmt kein Zuckerschlecken, denn sie war nachtragend und rachsüchtig. Und wenn Aldís ausflippte, bestünde die Gefahr, dass sie Lilja sagte, was sie davon hielt, dass sie ihre Post wegnahm. Darauf wollte sie sich lieber richtig vorbereiten, sich die Worte im Geiste immer wieder vorsagen und jedes Mal etwas hinzufügen, bis ihre Ansprache perfekt wäre.
    Bei jeder Bewegung spürte Aldís den Umschlag in ihrer Hosentasche, was ihre Wut den ganzen Tag über am Brodeln hielt. Es war wirklich unfassbar, dass Lilja und Veigar die Dreistigkeit besaßen, ihre Post zu beschlagnahmen. Aldís war davon überzeugt, dass sie die Briefe nicht nur weggenommen, sondern auch gelesen hatten, und bei dieser Vorstellung kochte der Hass in ihr hoch wie nie zuvor. Sie hatten kein Recht, in ihren Privatangelegenheiten herumzuschnüffeln und die Worte ihrer Mutter zu verhöhnen, die sie wahrscheinlich um Entschuldigung bat. Oder? Aldís zerbrach sich den Kopf darüber, was in dem Brief von ihrer Mutter stehen könnte und kam immer zu demselben Ergebnis: Sie bat sie um Verzeihung, damit sie sich meldete oder zurück nach Hause kam. Was sonst? Sie würde ihr ja wohl kaum schreiben, um ihr vorzuwerfen, dass sie eine Lügnerin sei, die ihrer Mutter die Liebe nicht gönne. Wobei das natürlich nicht ausgeschlossen war. Vielleicht wollte sie ja auch ihr Geld zurück, obwohl der Betrag wirklich gering

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