Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
getraut, was zu sagen, wobei ich mir kaum vorstellen kann, dass er glücklich darüber ist.« Diljá grinste und nippte an ihrem Kaffee. »Aber er hat es verdient.«
»Warum?«, fragte Rún und schaute von einem zum anderen. »Was hat er denn gemacht?«
»Nichts. Das war das Problem«, sagte Diljá, hängte ihre Handtasche wieder an ihren Stuhl, setzte sich und fing an zu tippen.
»Wie nichts?« Rún schaute fragend zu ihrem Vater. »Und was war mit dem Stuhl?«
»Ach nichts, Schatz, Diljá macht nur Witze«, sagte Óðinn.
Ihm wurde klar, dass es wohl doch einfacher gewesen wäre, sich für einen Tag krankzumelden. Besonders als er die Bilder, die Rún gemalt hatte, einsammelte. Auf einem war eine Gestalt, die aussah, als würde sie einen Schneeengel machen, während eine andere etwas entfernt von ihr stand und sie beobachtete. Doch dann merkte er, dass die erste Gestalt eine Frau mit weit geöffnetem Mund war, die wie im freien Fall mit den Armen ruderte oder gerade gelandet war. Die andere Figur sah man nur von hinten, offenbar auch eine Frau, jedenfalls ragten ihre nackten Beine aus einem mantelähnlichen Kleidungsstück. Oder es war ein Mann in kurzen Hosen und einem Mantel. Auf einem anderen Bild war ein Grabstein mit der Aufschrift Mama , und das Grab war mit lachenden Blumen geschmückt, die überhaupt nicht zu dem Grabstein und der Aufschrift passten. Er würde die Bilder morgen der Psychotherapeutin zeigen. Óðinn zuckte zusammen, als er das dritte Bild sah. Das hatte bei der Therapeutin nichts zu suchen. Es zeigte ein kastenförmiges Auto mit zwei schreienden Gesichtern in den Fenstern, deren runde Münder fast dieselben Züge hatten wie der Mund der Frau auf dem ersten Bild. Óðinn spähte zu dem Foto an der Wand. Wie konnte Diljá Rún nur von dem Schicksal der Jungen erzählen? Er wäre besser krank zu Hause geblieben.
»Das war echt nicht nötig, meiner Tochter von den Jungen, die in dem Auto erstickt sind, zu erzählen!« Óðinn verschränkte die Arme, damit er nicht mit seinem Finger vor Diljás Gesicht herumfuchtelte. »Ich verstehe nicht, wie du so was machen kannst! Sie hat schon genug mit sich selbst zu tun.«
Es reichte schon, dass das Kind Angst vor offenen Fenstern hatte, nun würde sie sich womöglich auch noch weigern, in ein Auto zu steigen. Diljá drehte sich um. Auf ihrem Bildschirm prangte eine Facebook-Seite, die sie noch nicht einmal versuchte zu verbergen.
»Wovon sprichst du eigentlich?«
»Von Rún. Du hast ihr von den Jungen erzählt, die in dem Auto erstickt sind. Die Jungen auf dem Foto an Róbertas Wand«, zischte Óðinn, damit Rún ihn am anderen Ende des Büros nicht hören könnte.
»Spinnst du?« Diljá hob verwundert die Augenbrauen. »Ich habe ihr nichts von den Jungen erzählt, und auch nicht, dass sie erstickt sind.« Sie straffte sich und machte Anstalten aufzustehen. »Wie kommst du darauf?«
Óðinns Wut vermischte sich mit Erstaunen, wogte dann aber wie eine Welle wieder in ihm hoch.
»Vielleicht, weil sie ein Bild davon gemalt hat, während du auf sie aufgepasst hast?« Er zog die zusammengefaltete Zeichnung aus seiner Hosentasche und zeigte sie ihr. Diljá streckte die Hand aus, aber Óðinn zog das Blatt zurück und steckte es wieder in seine Tasche. »Du glaubst doch wohl nicht, dass das Zufall ist?«
»Keine Ahnung. Ich habe die Jungen mit keinem Wort erwähnt. Warum sollte ich? Du musst es ihr selbst erzählt haben. Das ist schließlich dein Projekt, nicht meins. Es interessiert mich überhaupt nicht. Null.«
»Ich?« Óðinn musste sich zusammenreißen, um ruhig zu bleiben. »Ich würde das meiner Tochter nie erzählen. Du bist wohl verrückt!«
»Du bist verrückt! Ich habe das nicht gemacht. Wir haben über ganz andere Dinge geredet.«
»Aha, über was denn?«
»Zum Beispiel darüber, was für ein Blödmann du bist.« Diljá verschränkte jetzt ebenfalls die Arme vor ihrer Brust und reckte trotzig das Kinn. »Wie komisch es ist, dass du eine so tolle Tochter hast. Sie muss wohl das lebende Abbild ihrer Mutter sein.«
Óðinn war sprachlos. Es war nicht seine Absicht, einen kindischen Streit mit Diljá vom Zaun zu reißen, und das Schlimmste war, dass er ihr glaubte. Warum hätte sie Rún von den Jungen erzählen sollen? Weil ihr kein anderes Thema mehr einfiel? Wohl kaum, Diljá kannte sämtliche Klatschgeschichten der Stadt aus dem Effeff.
»Wenn du es ihr nicht erzählt hast und ich auch nicht, wie kann sie die Jungen dann gemalt
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