Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
kommt nichts.«
Gut, dass Rún morgen ihren Termin bei der Therapeutin hatte. Am besten wäre es noch heute gewesen. Sofort. Óðinn konnte seine Augen nicht von ihrem zierlichen Gesicht lösen, von ihren geröteten Wangen und ihren zarten Lippen, die sie fest aufeinanderpresste, um nichts zu sagen, das ihren Vater enttäuschen würde.
Aber sie musste gar nichts sagen. Tief im Inneren fühlte sich Óðinn, als ginge er einen steilen Abhang hinunter, ohne erkennen zu können, was ihn am Fuß des Berges erwartete, als wisse er nur, dass er immer schneller würde, bald rennen müsste und es dann nicht mehr möglich sei, vor dem grauenhaften Ende noch einmal anzuhalten. Er zwang sich zu lächeln, und Rún lächelte freudlos zurück. Was ging eigentlich in ihrem kleinen Kopf vor?
16. Kapitel
Januar 1974
Aldís wusste nicht, was sie geweckt hatte, das Klappern ihrer eigenen Zähne oder die Tropfen, die in das eiskalte Badewasser fielen. Vorsichtig blinzelte sie und war froh, als sie sah, dass es noch Nacht war. Sie hatte stechende Kopfschmerzen, die ein bisschen nachließen, als sie die Augen richtig aufschlug. Der Hahn tropfte immer noch, und das Geräusch echote lange in der Stille. Wenn sie nicht aufstand, würde sie erfrieren, nackt in der Badewanne. Die Vorstellung einer solchen Erniedrigung brachte sie in Bewegung.
Zunächst setzte sie sich nur auf. Sie traute sich nicht aufzustehen aus Angst, ohnmächtig zu werden, und zitterte wie Espenlaub, während sich die untere Hälfte ihres Körpers im eiskalten Wasser und die obere in der eiskalten Luft befand. Zu allem Überfluss hatte sie einen schlechten Geschmack im Mund, und ihr war übel. Sie hielt sich am glitschigen Rand der Badewanne fest und stemmte sich langsam hoch. Kälte umschloss sie, doch sie versuchte, nicht daran zu denken und das Zittern unter Kontrolle zu kriegen, damit sie nicht wieder ins Wasser plumpste. Endlich schaffte sie es, und als sie in einer Pfütze auf dem Boden stand, sah sie sich als Erstes nach einem Handtuch um. Vergeblich.
Aldís sammelte ihre Kleider ein, die auf dem Boden verstreut lagen, und allmählich nahmen die Ereignisse der Nacht vor ihren Augen Gestalt an. Sie konnte sich unmöglich an alles erinnern, nur an das Wichtigste. Was auf gewisse Weise ein Glück war. Die wichtigsten Dinge wusste sie noch, und das genügte. Zum Beispiel, warum sie in der Badewanne gelandet war. Sie fror zu sehr, um rot zu werden, und fühlte sich zu erschlagen und mies, um sich zu schämen. Mit Mühe schaffte sie es, sich halbwegs mit ihren Kleidern abzutrocknen. Dabei wurde ihr etwas wärmer, das Zittern ließ nach, und sie wickelte sich in die Klamotten. Es war unmöglich, sie anzuziehen, dafür war sie zu nass und erschöpft. Außerdem war ihre Jeans zu eng. Es war kein Zufall gewesen, dass sie die angehabt hatte – die einzige Hose in ihrem Kleiderschrank, die man mit viel gutem Willen als cool bezeichnen konnte, und gestern Abend wollte sie gut aussehen. Die Verkäuferin in dem Klamottenladen hatte ihr damals versichert, die Jeans stehe ihr wie angegossen, und um den Reißverschluss zuzuziehen, müsse sie sich nur hinlegen. Wenn Aldís geahnt hätte, dass sie die Hose noch zweimal ausziehen würde, bevor sie ins Bett käme, hätte sie vielleicht doch etwas anderes angezogen.
Einar und sie hatten miteinander geschlafen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Aldís bereits reichlich aus der Flasche getrunken, die sie aus der Vorratskammer geklaut hatte. Sie wusste nicht mehr genau, wie es gewesen war, erinnerte sich nur dunkel daran, dass er zärtlich gewesen war, ungestüm, sie aber dennoch nicht vernachlässigt hatte, im Gegensatz zu den anderen, mit denen sie schon geschlafen hatte und die sich nur wie im Akkord auf ihr abgearbeitet hatten. Einer von ihnen hatte sich sogar damit begnügt, seine Hose bis zum Hintern herunterzuziehen, und dann losgelegt. Aldís wusste noch, dass sie dabei die Augen zugemacht und versucht hatte, an etwas anderes zu denken. Das hätte sie letzte Nacht nie getan. Daran konnte sie sich zumindest noch erinnern. Dass ihre früheren sexuellen Erlebnisse im Nebel lagen, war ihr egal, aber diesmal bereute sie es, so viel getrunken zu haben. Andererseits wäre es in nüchternem Zustand nie so weit gekommen. Dann hätte sie sich entschieden geweigert. Und wenn auch nur deshalb, weil sie die Pille nicht nahm und er natürlich kein Kondom dabeihatte. Das wusste sie immerhin noch, und deshalb lag sie in der Badewanne. Obwohl sie
Weitere Kostenlose Bücher