Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
nirgendwo Ruhe herrschte. Aber es war ja auch niemand wegen der Ruhe hergekommen. Óðinn stand an der Theke, die sich schlagartig geleert hatte. Kurz zuvor hatten sich die Gäste noch gegenseitig auf die Füße getreten, um bedient zu werden, doch als das Lied, das jetzt lief, aufgelegt wurde, waren die meisten zur Tanzfläche gestürmt. Er nahm ein feuchtes Bierglas vom Barkeeper entgegen und spürte, wie seine Haare im Takt mit der lauten Musik auf- und abwippten. Er hatte niemanden zum Anstoßen außer dem Barkeeper, der ihm lieblos zuprostete. Die meisten in dem Laden waren jünger als Óðinn, und er kannte kein Schwein. Und was noch schlimmer war: Die Mädchen waren alle zu jung für ihn. Dasselbe galt für zwei weitere Läden, in denen er vorher vorbeigeschaut hatte. In dem halben Jahr, in dem er dem Nachtleben ferngeblieben war, hatten sich die Läden komplett verändert. Seine Altersgruppe vergnügte sich jetzt offenbar zu Hause, leider, hätte er am liebsten gesagt, denn der Geburtstag, von dem er eben gekommen war, war ein leuchtendes Beispiel dafür.
Die Party war todlangweilig, aber aufschlussreich gewesen. Jetzt wusste er immerhin, dass er seine Freunde von früher kein bisschen vermisste. Seine ehemaligen Kumpels und deren bessere Hälften waren ihm gegenüber erst ziemlich unsicher gewesen, doch nach ein paar Gläsern war ein alter Freund nach dem anderen zu ihm gekommen und hatte ihm anvertraut, dass er ihn die ganze Zeit gerne angerufen, es aber irgendwie nie geschafft hätte. Aber jetzt würden sie ganz bestimmt Kontakt halten. Am Anfang war ihm das unangenehm gewesen, und er konnte sich nicht so schnell daran gewöhnen wie an den Rotwein seines Bruders. Am Schluss hätte er ihnen am liebsten gesagt, sie könnten ihn mal kreuzweise und sollten sich bei jemand anderem ausheulen. Doch er ließ es über sich ergehen, bis er endgültig die Schnauze voll hatte und unter den verstohlenen Blicken der Frauen und der Aufforderung seiner Kumpels, doch noch ein bisschen zu bleiben – es finge doch gerade erst richtig an – die Party verließ. Fast hätte er erleichtert aufgeschrien, als er im Taxi vor dem Wohnblock saß. Nie, nie mehr. Seine anderen Freunde reichten ihm, diejenigen, die zu ihm gehalten hatten, als er sich von seiner Frau getrennt hatte.
»He, ist das nicht der Typ, der sich scheiden lassen hat?«
Óðinn hätte das nicht auf sich bezogen, wenn der Mann ihn nicht während seines Ausrufs an der Schulter gepackt hätte.
»Na, wie geht’s?«
Der junge Mann war angetrunken, aber nicht sternhagelvoll. Er grinste Óðinn mit glasigen Augen an und wirkte enttäuscht, als der ihn nicht erkannte und einen Schritt zurückwich.
»Erinnerst du dich nicht an mich? Der Junggesellenabschied?«
Wenn die Musik plötzlich ausgeschaltet worden wäre, hätte man gehört, dass der Mann laut brüllte, aber bei dem Lärm schien er fast zu flüstern.
Der Nebel in Óðinns Kopf lichtete sich ein wenig. Er musste diesen Typen irgendwoher kennen.
»Äh, hilf mir mal kurz auf die Sprünge.«
»Weißt du nicht mehr? Du hast mir gesagt, ich soll nicht heiraten.« Der Mann kam näher und beugte sich verschwörerisch zu Óðinn. »Hätte besser auf dich gehört.« Dann richtete er sich wieder auf und schrie: »Nee, nee, angeschmiert!«
Jetzt erinnerte sich Óðinn an ihn. Das war der Typ, mit dem er sich in der Nacht, als Lára gestorben war, unterhalten hatte. Damals hatte er ein Ballettröckchen über seiner Hose getragen und von seinen Kumpels Bräunungscreme ins Gesicht geschmiert bekommen. Endlich jemand, den er kannte.
»Mann, du siehst ganz anders aus in diesen Klamotten«, sagte er, erwähnte aber nicht, dass er sich an den Teil des Abends, den sie miteinander verbracht hatten, nur dunkel erinnerte. Allerdings doch deutlich genug, um zu wissen, dass er den armen Kerl total vollgequatscht hatte.
»Du warst echt witzig, wolltest mich unbedingt über die ganze Wahrheit der Ehe aufklären, dass sie die reinste Katastrophe ist.« Der Mann grinste und stieß Óðinn mit dem Ellbogen an, was freundschaftlich gemeint war, aber Óðinn dennoch ins Wanken brachte. »Sorry, mein Freund, aber das hast du verdient. Ich hatte mich eine Woche später bei der Hochzeit immer noch nicht richtig erholt. Du hast mich so was von abgefüllt!«
»Aber so lange waren wir doch gar nicht unterwegs«, schrie Óðinn dem Mann ins Ohr. Er freute sich dermaßen, jemanden zum Reden zu haben, dass er nicht wollte, dass der Mann
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