Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
wahrzunehmen, und sein Herz schlug schnell und ungleichmäßig. Er würde einfach hier schlafen, er würde nicht ins Schlafzimmer gehen, unter keinen Umständen.
20. Kapitel
Januar 1974
Der Schneesturm tobte schon so lange, dass das Pfeifen des Windes und das Knarren des Hauses zu einem anhaltenden Dröhnen verschmolz. Als würde es ewig so sein. Aldís konnte sich kaum mehr erinnern, wie sich Stille anhörte, und wurde das Frösteln nicht los, obwohl es warm im Haus war. Der Schnee vor den Fenstern trug seinen Teil dazu bei. Sie machte sich Sorgen um den Vogel und versuchte sich vorzustellen, wo er Zuflucht gesucht haben könnte. Es war durchaus möglich, dass er hinaus in die Ödnis geweht worden war und sie ihn nie wiedersehen würde. Ihr wurde schwer ums Herz, dabei war ihr immer klar gewesen, dass es schlecht ausgehen könnte mit dem armen Kerl. Im Radio sendeten sie ständig Sturmwarnungen, was einem seltsam vorkam, weil das Unwetter ohnehin keinem Menschen verborgen blieb. Aldís hatte in Krókur noch nie so schlechtes Wetter erlebt, und es war das erste Mal, dass die Jungen nicht arbeiten konnten. Veigar und Lilja hatten entschieden, dass es zu gefährlich für sie sei, zwischen den Gebäuden hin und her zu laufen, weshalb sie ausnahmsweise auf ihren Zimmern herumhingen.
Aldís hätte bestimmt auch freibekommen, da nichts Besonderes zu tun war. Veigar und Lilja hätten selbst für die Jungen kochen und das Essen ins Nachbarhaus bringen können. Doch die Vorstellung, noch einen weiteren Tag in ihrem kargen Zimmer verbringen zu müssen, war schlimmer, als mit anzupacken. Ihre Mitbewohner hatten hingegen freudig die Gelegenheit ergriffen und waren beleidigt, weil sie es sich nicht mit ihnen gemütlich machen wollte. Die Männer wollten nicht von ihr für Faulenzer gehalten werde, hatten aber ja auch am Tag zuvor gearbeitet, während Aldís zitternd vor Übelkeit und Sorgen im Bett gelegen hatte. Das wollte sie nicht noch einmal erleben.
Das Linoleum glänzte. Es war noch nass, und Aldís wusste, dass es wieder genauso aussehen würde wie vorher, sobald das Seifenwasser getrocknet wäre: matt und abgetreten. Aber immerhin sauber. Es war okay, bei diesem Wetter zu putzen, sie war alleine im Haus, und es würde kaum jemand kommen und alles wieder mit Fußabdrücken ruinieren. Aldís hatte tüchtig gearbeitet und fühlte sich deshalb besser als sonst, wenn sie alleine war. Es motivierte sie, im Geiste aufzuzählen, was sie alles schon geschafft hatte und was sie noch machen musste. Außerdem erstickte das Pfeifen des Windes alle anderen unerklärlichen Geräusche.
Aldís wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab und öffnete die Tür zum Büro. Sie hatte Liljas und Veigars Wohnung im ersten Stock und den Klassenraum und den Flur im Erdgeschoss geputzt. Jetzt blieb nur noch das Büro, eine Toilette und der Eingangsbereich übrig. Danach würde sie sich warm einpacken, zum Hauptgebäude rüberlaufen und Lilja und Veigar vielleicht sagen, dass sie für heute fertig sei. Das würde sie auf dem Weg entscheiden. Vielleicht fand sie ja auch ein Buch in der Kammer am Ende des Flurs, das die Bibliothek genannt wurde, ein Buch, in das sie sich ein paar Stunden vertiefen könnte. Wobei das eher unwahrscheinlich war, da sie alle Bücher, die sie spannend fand, schon gelesen hatte. Eigentlich hatte sie noch gar kein Englisch gelernt, das Lehrbuch verstaubte auf ihrem Nachttisch, und es wäre sinnvoll, sich nach dem Mittagessen damit zu beschäftigen. Dabei bestand allerdings die Gefahr, dass ihre Gedanken abschweiften und sie an den vergrabenen Säugling auf dem Hofplatz, an ihre Mutter oder daran dachte, wie alt Einar war und warum er hier war. Was hatte er verbrochen? Warum hatte man ihn in ein Heim für Jüngere geschickt?
Aldís schaltete das Licht in Veigars Büro an und trug den halbvollen Eimer herein. Das Wasser war bräunlich, aber das war ihr egal – Veigar hatte kein frisches Wasser verdient. Aldís musste über ihren harmlosen Aufstand lächeln. Wie üblich musste sie aufpassen, weil es so eng war, aber diesmal lief es viel besser, weil Veigar erstaunlicherweise seinen Schreibtisch aufgeräumt hatte, so dass sie ihn abstauben konnte. Sie wischte ein paar Abdrücke von Kaffeetassen weg und wunderte sich, wie Veigar überhaupt Platz für Tassen gefunden hatte. Da alles so schön sauber war, beschloss sie, auch noch das Telefon abzuwischen, das mit Veigars großen Fingerabdrücken übersät war. Danach sah
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