Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
das schwarze Gerät so aus, als sei es frisch von der Telefongesellschaft eingetroffen, und Aldís betrachtete zufrieden das Ergebnis.
Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hielt sie den Telefonhörer in der Hand. Es passierte einfach. Sie wusste sofort, was ihr Unbewusstes mit ihr vorhatte, denn in ihrer momentanen Lage gab es nur eine Person auf der ganzen Welt, die sie anrufen wollte. Aldís holte tief Luft und starrte auf das zugeschneite Fenster. Hinter der weißen Fläche tobte der Sturm. Schnee rann an der Scheibe herunter, so wie ihr eigenes Leben. Nirgends ein Halt, kein Rettungsseil in Sicht. Natürlich musste sie zu Hause anrufen. Dort war ihr Anker. Sie musste nur die Wählscheibe drehen, das konnte sie sogar blind. Und was sollte schon passieren? Ihre Mutter war sowieso bei der Arbeit. Als Aldís die letzte Nummer gewählt hatte, fiel ihr das Unwetter ein, das das ganze Land lahmgelegt hatte. Die Bäckerei, in der ihre Mutter arbeitete, war bestimmt geschlossen.
Dennoch legte Aldís nicht auf. Sie hob den schweren Hörer ans Ohr und lauschte auf das Läuten. Auf dem kleinen Tischchen zu Hause neben dem Eingang klingelte jetzt das Telefon, und Aldís konnte den tiefen Ton hören, als sei sie dort. Sie schloss die Augen, um ihre Tränen zurückzuhalten. Beim vierten Klingeln wurde abgehoben.
»Hallo?« Die Stimme ihrer Mutter klang anders, als Aldís sie in Erinnerung hatte. Irgendwie mechanischer und trauriger. »Hallo?«
Aldís sagte nichts, stand nur starr da und bereute es zutiefst, dass sie sich von ihren Gefühlen hatte leiten lassen. Das war dieselbe Frau, die diesen widerlichen Kerl bevorzugt und ihre eigene Tochter der Lüge bezichtigt hatte, anstatt zuzugeben, was für einen Dreckskerl sie sich ins Haus geholt hatte.
Doch es war auch die Frau, die viele Abende an der Nähmaschine damit verbracht hatte, Kleider für ihre Tochter zu nähen, damit sie genauso schick war wie die anderen Mädchen, die aus wohlhabenderen Familien stammten; die Frau, die ihr das Einmaleins abgehört hatte; die Frau, die ihr in ihrer Kindheit nach dem Klettern und Toben Pflaster auf ihre Wunden geklebt und sich in ihrer Jugend verständnisvoll ihr Klagen angehört hatte. Mama. Tränen strömten über Aldís’ Wangen. Natürlich musste sie ihrer Mutter verzeihen. Wenn es umgekehrt wäre, würde ihre Mutter ihr auch verzeihen.
»Hallo? Wer ist da?«, fragte ihre Mutter jetzt mit energischer Stimme, als wüsste sie, wer am anderen Ende der Leitung war. »Aldís, bist du das? Sag doch was, irgendwas!«
Aldís wusste, dass es ihre Mutter große Überwindung kostete, das zu sagen, denn es konnte durchaus jemand anders am Apparat sein. Mit diesen Worten gestand sie ein, wie sehr sie ihre Tochter vermisste, und es war nicht ihre Art, sich zu beklagen. Lächeln und Haltung bewahren. Sich nicht ansehen lassen, dass man nicht mit der steigenden Miete klarkommt, dass die Stromrechnung noch nicht bezahlt ist, dass sich Zinsen anhäufen, so tun, als wolle man gar nicht mit den Freundinnen nach Reykjavík ins Theater fahren, obwohl sie über nichts anderes redeten. Lächeln und so tun, als sei alles in Ordnung. Es geht niemanden etwas an, wie man sich fühlt.
»Aldís?«, fragte ihre Mutter den Tränen nah.
Da knallte Aldís den Hörer auf. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie das Telefon an, das so tat, als hätte der Anruf gar nicht stattgefunden. Sie würde nicht noch einmal anrufen. Jedenfalls nicht jetzt, wenn überhaupt. Ihre Mutter hatte nicht die Antworten, die Aldís brauchte. Es brachte nichts, mit ihr zu sprechen, außer vielleicht um sich auszuheulen. Aber Aldís hatte Angst, nicht mehr aufhören zu können, wenn sie einmal anfing zu weinen. Nein, es war besser, das Ganze zu vergessen und nicht alles mit einem Anruf noch schlimmer zu machen.
Doch mit ihrer Entschlossenheit war es nicht weit her, denn als das Telefon klingelte, riss Aldís beim ersten Schellen den Hörer ans Ohr.
»Mama?«
»Hallo, wer ist denn da?«
Nein, das war nicht die Stimme ihrer Mutter, das war eine andere Frau.
»Hier ist Aldís«, sagte sie und wischte sich mit dem Ärmel ihres verschlissenen Pullis die Tränen aus den Augen, wobei die knotige Wolle über ihre empfindlichen Lider kratze.
»Guten Tag, habe ich letztens mit Ihnen gesprochen? Ich war so froh, endlich jemanden zu erreichen, dass ich vergessen habe, mir den Namen aufzuschreiben.«
Es war Einars Mutter. Aldís atmete tief ein, füllte ihre Wangen mit Luft, bis sie
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