Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
vieles im Argen lag«, erklärte Óðinn. Seine Kollegen schauten betreten weg, wenn er sie ansah, als fühlten sie sich für den Betrieb des Heims verantwortlich. »Unglaublich, dass sie sich nicht schon früher dazu geäußert haben.«
»Kann es sein, dass sie sich bei dem plötzlichen Interesse nur wichtig gemacht und übertrieben haben?«, fragte Heimir, der an seinem Platz am Tischende saß und wenigstens nicht Óðinns Blick auswich. »Ich weiß nicht, ob die Aussagen von vier Personen einen ausreichenden Beweis darstellen.«
»Natürlich nicht, aber ihre Aussagen lassen stark vermuten, dass es einen Anlass für Schadenersatzansprüche gibt.«
»Warum sind sie dann nicht schon früher mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit gegangen? Von sich aus?«
»Ich glaube, da spielt vieles eine Rolle. Keiner von ihnen konnte oder wollte dem Heim ein Gesicht geben, schließlich ist es nicht besonders schön, zuzugeben, dass man dort eingewiesen war. Wir dürfen nicht vergessen, dass Krókur im Vergleich zu Breiðavík ein Erziehungsheim war. Die Jungen, die dorthin geschickt wurden, hatten etwas verbrochen, waren aber zu jung, um wie Erwachsene bestraft zu werden. Drei von denen, mit denen ich gesprochen habe, sind jetzt ganz normale Familienväter. Sie haben mir zwar ihre Geschichten erzählt, wollen aber auf keinen Fall in die Presse kommen. Der Vierte ist im Grunde obdachlos und versucht zum wiederholten Mal Fuß zu fassen. Er hat den Fall Breiðavík gar nicht mitverfolgt, weil er entweder auf der Straße oder in einer Therapieeinrichtung lebt. Natürlich hatte er davon gehört, aber ihm war nicht klar, dass für Krókur möglicherweise dasselbe gilt. Und selbst wenn es ihm klar gewesen wäre, hätte er sich vielleicht nicht getraut, sich zu melden.«
»Tja, nun denn, das gefällt mir zwar nicht, aber es ist natürlich schön, dass du so gut vorankommst«, sagte Heimir und warf den anderen einen Blick zu, um ihnen zu verstehen zu geben, dass sie auch bessere Ergebnisse bringen könnten. »Aber hast du auch mit den Heimmitarbeitern gesprochen?«
Heimirs Lippen bewegten sich weiter, obwohl er nichts mehr sagte, als wäre der Ton ausgeschaltet worden. Wahrscheinlich rechnete er gerade im Geiste aus, wie alt die Mitarbeiter jetzt sein mussten.
»Der Heimleiter starb vor etwa zehn Jahren, aber ich treffe morgen seine Witwe, die mit ihm zusammen das Heim geführt hat. Über andere Mitarbeiter liegen mir keine detaillierten Informationen vor. Róberta hat keine entsprechende Liste geführt«, sagte Óðinn. Er hatte ihre Unterlagen mehrmals danach durchforstet. »Die Bewohner, mit denen ich gesprochen habe, kannten keinen der Mitarbeiter mit vollem Namen, daher möchte ich dich bitten, Heimir, eine entsprechende Liste anzufordern. Du hast vollkommen recht, ich muss mit mindestens zwei Angestellten sprechen. Die sehen den Betrieb bestimmt in einem ganz anderen Licht als die Heimleiterin.«
Heimir runzelte die Stirn.
»Róberta hatte das irgendwo, da bin ich mir ziemlich sicher.«
»Tja, dann hat sie die Unterlagen gut versteckt. Ich habe nichts Genaues über die Mitarbeiter gefunden. Hier und da ein paar Namen, aber meistens fehlt der Nachname. Wenn mal ein voller Name genannt wird, dann ist er so weit verbreitet, dass man nicht viel damit anfangen kann. Ich bräuchte Geburtsdaten oder so was. Ich kann ja nicht auf gut Glück in der ganzen Stadt rumtelefonieren, oder?«
»Selbstverständlich nicht«, schnaubte Heimir. »Ich werde sehen, was ich machen kann.«
Sein Chef war offensichtlich genervt, und als er Óðinn nach dem Meeting ansprach, verstand der auch, warum. Die Behörde hatte bereits eine Menge Originalunterlagen bekommen, die Heimir Róberta ausgehändigt hatte, und er wollte dem Ministerium nicht melden, dass ein Teil davon vermutlich verschwunden war. Dennoch versprach er, die Sache zu überprüfen. Das Gespräch lief vertraulich ab, als seien sie Freunde, die ein Geheimnis austauschten, und Óðinn hätte Heimir fast erzählt, was Pytti über den Unfall gesagt hatte. Aber die Geschichte des Obdachlosen war so abwegig, dass Óðinn es doch nicht über sich brachte, sie Heimir zu erzählen, weil der ihn dann womöglich für verrückt erklären würde. Es war unmöglich, dieser Sache nach siebenunddreißig Jahren auf den Grund zu gehen. Zwei der drei Bewohner, mit denen Óðinn gesprochen hatte, waren vor dem Unfall im Heim gewesen und der dritte kurz danach. Der kannte den Vorfall nur aus den
Weitere Kostenlose Bücher