Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
mal eine Abwechslung. Wir schreiben einfach ›Ortsbegehung‹ in die Zeiterfassung. Und trinken vielleicht auf dem Weg einen Kaffee.«
Es war schwer, sich von Diljás Eifer nicht anstecken zu lassen. Dabei war das vielleicht eine gute Idee, die sich im Nachhinein doch als schlecht herausstellen würde – wie Óðinns Idee, Lára damals am frühen Morgen mit seiner Kneipenbekanntschaft einen Besuch abzustatten. Aber diesmal war er nicht alleine, Diljá würde nicht im letzten Moment mit einem Taxi abhauen.
»Okay, ich bin dabei.«
Schlimmstenfalls stünden sie plötzlich bei fremden Leuten in der Wohnung, aber sie konnten ja vorher laut anklopfen. Und jetzt war es zu spät, einen Rückzieher zu machen, Diljá hatte sich schon ihre Tasche über die Schulter gehängt und sagte, er solle sich beeilen. Bevor Óðinn ihr folgte, ließ er seinen Blick noch einmal durch die Box schweifen. Es war nicht der Schlüssel, der ihn irritierte. Es war etwas anderes. Aber was?
22. Kapitel
Vor dem Wohnblock im Kleppsvegur gab es mitten an einem Wochentag ausreichend Parkplätze. In den Wohnzimmerfenstern hingen transparente Vorhänge und in der Küche zweigeteilte Rüschengardinen. Was nicht unbedingt darauf hinwies, dass dort junge Leute wohnten. Vor dem Hauseingang fand Diljá problemlos Róbertas Namen auf einem der Briefkästen, zumal er sich von den anderen dadurch abhob, dass ein Stapel Briefe wie ein grotesker Blumenstrauß aus dem Kasten ragte.
»Sieht so aus, als wäre noch niemand eingezogen«, sagte Diljá und zog vorsichtig einen Umschlag heraus, wobei ein paar andere auf den Boden fielen. Sie kümmerte sich nicht darum und las den Absender: »Rentenkasse. Wahrscheinlich eine Jahresübersicht. Wer das Geld wohl jetzt bekommt?«
»Niemand.« Óðinn hob die Umschläge von dem gefliesten Boden auf. Er fand es respektlos, sie einfach liegen zu lassen. »Sie war unverheiratet und kinderlos. In solchen Fällen wird die Rente bestimmt niemandem ausbezahlt.«
Diljá steckte den Umschlag zurück in den Briefkasten.
»Ich bin auch unverheiratet und kinderlos«, sagte sie zu Óðinn, der nach der richtigen Türklingel suchte. »Jetzt finde ich es noch schlimmer, denen mein Geld in den Rachen zu schieben. Wenn ich Krebs bekomme und im Sterben liege, darfst du mich heiraten und meine Rente kassieren.«
»Ich nehme an, dass du dann an andere Dinge denken wirst, aber trotzdem danke.« Óðinn hatte das Gefühl, dass sie einen ähnlichen Deal von ihm erwartete, erinnerte sie aber lieber nicht daran, dass er eine Tochter hatte. Stattdessen drückte er auf die Klingel von Róbertas Wohnung. »Es wäre besser, wenn jemand da wäre«, sagte er, als könne er damit den Klingelton beeinflussen, der aus einem kleinen Lautsprecher drang.
»Wer sollte das denn sein?«
»Ich weiß nicht. Ein Verwandter oder ein Freund, der ihre Sachen zusammenpackt.«
»Träum ruhig weiter. Da ist niemand und schon gar keiner, der uns Kisten mit der Aufschrift ›Arbeitsunterlagen‹ überreicht. Ich saß bei der Beerdigung in der zweiten Reihe. Die wenigen Verwandten, die da waren, sind schon beim ersten Psalm mit ihren Handys im Internet rumgesurft. Die wollen zwar das Geld für die Wohnung, haben aber bestimmt keine Lust, Róbertas Sachen durchzusehen. Solche Typen waren das.«
Óðinn bereute es schon, Diljá mitgenommen zu haben, aber alleine wäre er wohl nie hergekommen. Nun musste er die Wohnung inspizieren. Es wäre zwar besser, das in Anwesenheit eines Nachlassverwalters zu tun, aber das hätte die Sache nur verkompliziert. Er wäre durch dieselbe Wohnung gegangen, hätte dieselben Sachen angeschaut, die niemandem mehr wichtig waren, nur unter den wachsamen Augen eines Nachlassverwalters oder Verwandten anstatt unter Diljás. Außerdem wäre es bestimmt schwierig, Unterlagen ausgehändigt zu bekommen, wenn alles nach Vorschrift verlief. Ungefähr so hatte er die Sache auf dem Weg zu Róbertas Wohnung vor sich selbst gerechtfertigt.
»Sollen wir es nicht doch lassen?«, fragte er jetzt.
»Bist du verrückt?«, stieß Diljá naserümpfend hervor. »Jetzt sind wir hier. Was wäre denn das Schlimmste, was passieren kann?« Sie wartete nicht auf eine Antwort. »Ich sage es dir. Nichts. Es ist totaler Schwachsinn, jetzt einen Rückzieher zu machen.« Sie nahm Óðinn den Schlüssel aus der Hand und ging zur Haustür. »Ich glaube, ich will dich doch nicht heiraten, wenn ich im Sterben liege.« Vergeblich versuchte sie, den Schlüssel ins
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