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Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Titel: Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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vergaß umgehend den tosenden Sturm.

21. Kapitel
    Óðinn hatte sich damit abgefunden, dass er verrückt geworden war. Das war eine gewisse Erleichterung, er musste sich nicht mehr davor fürchten, denn es war schon eingetroffen. Die Erklärung der Psychotherapeutin, dass die Geräusche, die er hörte, schon immer dagewesen seien, war zwar ein gewisser Trost, reichte aber nicht. Es gab so viele andere Dinge, die von der gewohnten Realität abwichen.
    In den letzten Tagen hatte er kaum über etwas anderes nachgedacht als darüber, ob er selbst möglicherweise etwas mit Láras Tod zu tun hatte. Die Taxiquittung und der im Polizeibericht angegebene Zeitpunkt des Unfalls wiesen darauf hin: Er war in der Nähe gewesen und hatte kurz nach Láras Tod die Straße verlassen. Vage Erinnerungsfetzen an einen Krankenwagen und Blaulicht schossen ihm durch den Kopf, während er vergeblich versuchte, die Geschehnisse zusammenzupuzzeln. Eigentlich hielt er es fast für ausgeschlossen, dass er etwas mit der Sache zu tun hatte. Er war nicht gewalttätig, hatte sich als Junge noch nicht mal geprügelt. Und obwohl Lára und er bestimmt nicht immer einer Meinung gewesen waren, hatte er ihr nie körperliche Gewalt angetan. Sie hatten zwar ab und zu mit den Türen geknallt und sich beschimpft, sich aber nie geohrfeigt, geschweige denn mehr. Warum hätte er sie so lange nach der Scheidung umbringen sollen? Dass er sich betrunken in der Nachbarschaft aufgehalten hatte, machte da keinen Unterschied. Wahrscheinlich hatte er sie am Ende doch nicht besucht, war entweder zu müde gewesen oder doch noch zur Vernunft gekommen. Der Junggeselle, sein Saufkumpan, war zu diesem Zeitpunkt bereits mit dem Taxi weggefahren, und die Party war längst vorbei.
    Leider schien sich Rúns Zustand durch die Therapie zu verschlechtern. Sie hatte jede Nacht Albträume, in denen ihre Mutter sie verfolgte oder neben ihr saß, meistens in der Schule, in der Turnhalle, in einem Geschäft oder an anderen Orten, an denen sie sich häufig aufhielt. Der einzige Ort, an dem Rún friedlich schlafen konnte, war bei Baldur und Sigga. Sie wollte jetzt so oft zu ihnen, dass es Óðinn schon fast peinlich war.
    Trotzdem hatte die Therapeutin gezögert, zu vorschnelle Schlüsse daraus zu ziehen. Vermutlich verarbeite Rún endlich den Verlust ihrer Mutter. Niemand hatte behauptet, das sei ein Kinderspiel. Je länger Óðinn darüber nachdachte, desto mehr ahnte er, dass es noch viel schlimmer kommen würde. Aus diesem Grund nahm er noch einmal Kontakt zu Nanna auf und fragte sie ganz direkt, ob es denkbar sei, dass Rún den Sturz gesehen und die Erinnerung daran verdrängt habe, ob die Albträume daher rührten, dass die Sache nun im Zuge der Therapie wieder an die Oberfläche kam. Nanna hatte überrascht reagiert, zumal verdrängte Erinnerungen aus fachlicher Sicht umstritten waren, hatte diese Möglichkeit aber nicht verworfen. Leider.
    Óðinn hatte ein starkes Verlangen, Rún danach zu fragen. Manchmal starrte er sie an, als wolle er eine Antwort erzwingen, aber vergeblich. Er konnte sie nicht direkt fragen, weil er fürchtete, sich nicht mit einem einfachen Nein zufriedenzugeben. Und dann nähme das Unglück seinen Lauf. Seine größte Angst war, alles noch schlimmer zu machen, Rúns Erinnerungen durcheinanderzubringen oder völlig auszulöschen. Andererseits konnte Rún vielleicht bestätigen, dass er nicht in der Wohnung gewesen war. Oder noch schlimmer: Sie hatte gesehen, wie er ihrer Mutter Gewalt angetan hatte.
    Óðinns private Probleme waren so erdrückend, dass er sich zum ersten Mal darauf gefreut hatte, morgens ins Büro zu kommen. Er hatte es genossen, seinen Mantel aufzuhängen, sich einen Kaffee einzuschenken, sich mit dem Kopfhörer an den Schreibtisch zu setzen, das Radio einzuschalten und seine Dateien zu öffnen – Zuflucht zu suchen in der kleinen Box, die er am Anfang nicht ausstehen konnte. Dort konnte er abschalten, dort hörte man nichts anderes als das Gelaber und die Musik aus dem Radio, und dort konnte er so tun, als sei nichts geschehen, und sich ganz auf die Recherche über das Erziehungsheim konzentrieren. Er kam gut voran. Schneller, als er zu hoffen gewagt hatte, was ihn nun schon zum zweiten Mal hintereinander zum Star des wöchentlichen Morgenmeetings machte.
    »Ich habe mich mit vier ehemaligen Bewohnern unterhalten, und alle haben eine ähnliche Geschichte erzählt. Auch wenn sie es nicht direkt aussprechen, ist völlig klar, dass da

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