Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
kaputt! Wir sollten möglichst wenig anfassen.«
Diljá tat so, als falle ihr die Figur aus der Hand, verdrehte die Augen und stellte sie wieder zurück an ihren Platz.
»Wo bekommt man eigentlich solchen Kitsch?« Sie schüttelte pikiert den Kopf, als hätte Róberta ihre Wohnung mit Cannabispflanzen dekoriert.
»Weiß ich auch nicht.«
Óðinn wollte nicht über dieses Thema sprechen. Es war unangenehm, peinlich und unverschämt. Sie waren nicht hergekommen, um in Róbertas Sachen herumzuschnüffeln oder sich über ihren Geschmack auszulassen. Er jedenfalls nicht.
»Konzentrieren wir uns lieber darauf, warum wir hier sind«, sagte er und ging in die Küche, wo alles genauso ordentlich war wie im Flur. Selbst der Staub hatte es nicht geschafft, den Glanz der sauber geputzten, moosfarbenen Fliesen zu trüben. Vor dem Küchenfenster hingen die Rüschengardinen, die Óðinn schon vom Parkplatz aus gesehen hatte und die von nahem auch nicht besser aussahen. »Ich glaube, hier ist nichts.«
Auf dem Küchentisch lag nur ein rundes, gehäkeltes Deckchen, auf dem eine Teekanne stand, und auf der Arbeitsplatte und in den Regalen war auch nichts. Róberta hatte die Unterlagen ja wohl kaum in die Besteckschublade oder den Kühlschrank gesteckt.
»Warte mal«, sagte Diljá und quetschte sich an Óðinn vorbei. »In jeder Küche gibt es mindestens eine Schublade für Kleinkram.« Sie zog eine Schublade nach der anderen heraus und war enttäuscht, als sie nur Küchenutensilien und Trockentücher fand. »Vielleicht bestätigt die Ausnahme ja die Regel.«
Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als sie die richtige Schublade öffnete.
»Na also!« Diljá trat einen Schritt beiseite, damit Óðinn in die Schublade schauen konnte. »Hab ich doch gesagt.«
In der Schublade lag ein Stapel geöffneter Briefumschläge. Als Óðinn ihn herausnahm, kamen darunter jede Menge Stifte zum Vorschein, die sich auf merkwürdige Weise von der gewohnten Ordnung abhoben. Er blätterte die Umschläge durch und sah zu seiner Verwunderung, dass keiner von ihnen an Róberta adressiert war. Die Briefmarken waren ungewöhnlich unscheinbar, und obwohl er kein Briefmarkensammler war, sah er, dass sie schon recht alt waren.
»Guck mal!« Er gab Diljá einen Umschlag und las die Adresse auf dem nächsten. Auf beiden stand derselbe Name: Einar Allen. Die Anschrift lautete Erziehungsheim Krókur. Sämtliche Briefe waren an denselben Jungen adressiert. »In Róbertas Zeiterfassung stand was von Briefen. Damit muss sie die hier gemeint haben. Aber warum hat sie sie mit nach Hause genommen?«
Diljá hatte den Brief aus dem Umschlag genommen und angefangen zu lesen.
»Vielleicht, weil ihr zu Hause langweilig war und sie die Briefe in Ruhe lesen wollte. Weil sie selbst keine Briefe bekommen hat, was weiß denn ich.«
Sie las leise weiter.
»Der ist von einer Eyjalín«, sagte sie dann und blickte zu Óðinn. »Komischer Name. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Ist das vielleicht der Name einer Firma? Oder von einer Creme oder irgend so einem Quatsch?« Diljá starrte den Namen unten auf der Seite an und runzelte die Stirn. »Hast du den schon mal gehört?«
Óðinn schüttelte den Kopf. Was für eine Rolle spielte der Name der Verfasserin?
»Was steht denn drin?«, fragte er.
»Das hat bestimmt ein Mädchen geschrieben, keine Frau. Sieh mal die Schrift.«
Diljá hielt ihm den Brief hin. Die Buchstaben waren geschwungen und verschnörkelt, ganz anders als die geradlinige, nüchterne Schrift eines Erwachsenen. Der Akzent über dem i in Eyjalíns Unterschrift war herzchenförmig.
»Sie fragt, warum er nicht auf ihre Briefe antwortet. Sie sei total verzweifelt. Dann fragt sie, ob er sie noch liebt, und schreibt, dass sie ihren Vater hasst«, fügte Diljá hinzu.
»Ist das nicht typisch für Jugendliche?«
Wie lange es wohl noch dauern würde, bis Rún ihn hasste?
»Ich weiß nicht. Der Rest klingt schon seltsam. Sie schreibt, sie würde nichts bereuen und sie könnten später Kinder bekommen und glücklich werden. Egal, was der Arzt sagen würde. Dann fängt sie wieder damit an, warum er ihr nicht antwortet.«
»Was ist daran so seltsam?«
»Ich schätze, Eyjalín ist noch keine zwanzig, eher so zwischen fünfzehn und siebzehn. In dem Alter denkt man doch noch nicht an Familienplanung, eher an den Ritter auf dem weißen Pferd. Und was soll der Quatsch mit dem Arzt?« Diljá gab ihm den Brief und den Umschlag. »Hier, gib mir mal die
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