Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
ihr«, sagte Diljá, die die Fotos auf der Kommode unter die Lupe nahm. »Die war vielleicht komisch.«
Óðinn richtete sich auf.
»Inwiefern? Sind bei Beerdigungen nicht alle irgendwie komisch? Wie soll man denn da sein?«
»Ich weiß nicht, jedenfalls nicht so wie sie.«
Das Bild war in einem Fotostudio aufgenommen worden, wobei schwer zu sagen war, aus welchem Anlass. Die Frau trug kein Brautkleid, und es war auch kein Abiturfoto, zumal sie für eine Abiturientin viel zu alt war. Óðinn hatte immer Schwierigkeiten, das Alter der Leute zu schätzen, hielt sie aber für um die sechzig. Im selben Alter wie Róberta.
»Vielleicht ist das ihre Schwester«, meinte er. Doch dann hätten sie Halbschwestern sein müssen, denn sie waren sehr unterschiedlich. Róberta war pummelig, grauäugig und unscheinbar gewesen, während die Frau auf dem Foto braune Augen und hohe Wangenknochen hatte – in jungen Jahren hübsch, im fortgeschrittenen Alter sehr attraktiv.
»Nein, die Verwandten saßen alle auf der anderen Seite. Das war eine Freundin. Vielleicht ihre Geliebte. Jedenfalls war sie seltsam.« Diljá verzog das Gesicht. »Irgendwie unangenehm. Sie saß da wie eine Statue und starrte die ganze Zeit vor sich hin. Ich bin mir nicht sicher, ob sie überhaupt mal geblinzelt hat.«
»Sie ist eben auf ihre Weise mit der Trauer umgegangen. Nicht jeder bricht in der Öffentlichkeit in Tränen aus«, sagte Óðinn und wandte sich den oberen Regalen des Schranks zu. Dort standen Kisten und Tüten, alle von einem Supermarkt, der längst pleitegegangen war. »Hier ist nichts.«
Nachdem Diljá unters Bett gespäht und den Schrank genauer inspiziert hatte, beides ohne Erfolg, gingen sie weiter ins Wohnzimmer. Dort und in dem kleinen, dahinterliegenden Esszimmer war es genauso: Sie fanden nichts, was mit der Arbeit zu tun hatte. Óðinn beobachtete, wie Diljá die Schränke der Regalwand öffnete, in der ein ziemlich neuer Fernseher stand, und machte dasselbe mit der Anrichte im Esszimmer, in der es ständig klirrte.
»Vielleicht hat sie ja nur die Briefe mitgenommen, die wir in der Küche gefunden haben«, sagte Diljá enttäuscht.
»Ja, vermutlich.« Óðinn ließ den Sessel vor dem Fernseher los, auf dessen Lehnen und Sitzfläche Decken lagen. »Lass uns gehen. Wir haben alles durchsucht.«
»Bis auf das Badezimmer.«
Óðinn ging nicht weiter darauf ein und ließ Diljá auf dem Weg nach draußen einen Blick hineinwerfen. Er folgte ihr nicht, wollte keine Kosmetiksachen und anderen Dinge sehen, die wahrscheinlich im Müll landen würden. Niemand benutzte die Seife, die Creme oder das Parfüm einer Toten. Während er an der Wohnungstür wartete, fiel sein Blick auf einen Schlüssel, der an einem kleinen Haken hing. Auf dem Schlüsselanhänger stand Garage . Die Schrift war ein bisschen verschwommen, als sei die Plastikhülse nass geworden. Das unheimliche Gefühl, das Óðinn bisher in der Wohnung nicht gespürt hatte, machte sich nun doch bemerkbar, und die Haare auf seinen Armen richteten sich auf. Er war also doch noch genauso verrückt wie in der ganzen letzten Zeit. Er würde nie wieder normal werden und musste damit leben. Aber er musste sich doch irgendwann verdammt nochmal mit seiner Angst auseinandersetzen. Wenn er den Schlüssel wieder weglegte und seine Existenz verleugnete, würde er genau das Gegenteil tun.
»Diljá! Zu der Wohnung gehört noch eine Garage. Sollen wir uns die nicht lieber mal anschauen, als im Klo zu suchen?«, rief er mit energischer Stimme.
Sie verließen die Wohnung und fanden schnell die Garage, auf die der Schlüssel passte. Als Óðinn das schwere hölzerne Garagentor anhob, knarrte und quietschte es in den Angeln.
»Wo wohl Róbertas Wagen ist?«, fragte Diljá, trat in die Garage und schaute sich um.
»Hier jedenfalls nicht.«
Óðinn widerstrebte es, in die Garage zu gehen.
»Der steht vielleicht noch in der Innenstadt und hat tausend Strafzettel bekommen.«
Diljá ging zu einem Fahrrad und hob eine Einkaufstüte hoch, die daneben stand. Sie schaute zu Óðinn und forderte ihn auf, hereinzukommen. Er zwang sich, einen Schritt in den Betonkasten zu machen, und spürte, wie sich dabei der Knoten in seinem Bauch zusammenzog. Er kämpfte mit dem Verlangen, sich umzudrehen und zu vergewissern, dass das Tor noch auf war, als liefen sie Gefahr, bis an ihr Lebensende in dieser Garage eingesperrt zu sein. Óðinn schluckte und konzentrierte sich auf das, was Diljá in der Hand hielt.
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