Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
anderen. Das macht mich neugierig.«
Natürlich hätte Óðinn sich weigern können, aber er wusste, dass Diljá nicht aufgeben würde, bevor sie ihren Willen durchgesetzt hätte. Der Umgang mit ihr war manchmal wie ein Pflaster abzureißen – am besten, man brachte es schnell hinter sich.
»Ich sehe mir in der Zwischenzeit die anderen Zimmer an. Wir sollten nicht zu lange hierbleiben«, sagte er.
Diljá entgegnete nichts, nahm ihm nur die Umschläge aus der Hand und zog einen Küchenstuhl heran. Óðinn ging in den Flur, um schnell die restlichen Zimmer abzuchecken, während sie mit Lesen beschäftigt war. Er hatte wirklich keine Lust mitanzusehen, wie sie sämtliche Schränke in der Wohnung durchwühlte, vor allem im Schlafzimmer, wo man am ehesten Geheimnisse erwartete. Deshalb fing er auch dort an – mit Diljá zusammen würde er sich lieber das Wohnzimmer anschauen.
Das Schlafzimmer sah genauso unauffällig aus wie der Rest der Wohnung. Das Bett war gemacht, und auf der geblümten Überdecke hatte Róberta ein paar bestickte Kissen drapiert, die nicht richtig dazu passten. Óðinn hatte den Sinn von Überdecken noch nie begriffen, geschweige denn von solchen Kissen. Das machte es doch nur komplizierter, wenn man ins Bett gehen wollte. Er überlegte, was sie mit dem ganzen Zeug gemacht hatte, wenn sie ins Bett gegangen war. Sie musste es nachts auf den Polstersessel in der Ecke gelegt haben. Zumindest war auf der Kommode oder dem Nachttisch kein Platz. Bilderrahmen und Figürchen bedeckten fast die ganze Kommode, und auf dem Nachttisch befanden sich eine große, klobige Stehlampe, ein Buch mit einem Lesezeichen und ein leeres Wasserglas. Die Nachttischschubladen waren fast alle leer, bis auf eine Schlafmaske, Aspirin und eine Pinzette. Óðinn warf einen kurzen Blick in die Schubladen der Kommode und schloss sie sofort wieder, als er sah, dass sie nur Kleidung enthielten. In der untersten lagen Stricksachen, Wollknäuel und ein halbgestrickter Ärmel.
Er schob die Schublade zu und richtete sich auf. Merkwürdigerweise fühlte er sich entgegen seiner Erwartung nicht unwohl in dem Raum. Natürlich war es fragwürdig, ohne Erlaubnis in die Wohnung einer Verstorbenen einzudringen, aber er hatte damit gerechnet, Róbertas Anwesenheit zu spüren, dass sie plötzlich hinter ihm stehen oder im Spiegel auftauchen würde, was aber nicht der Fall war. Keine Gänsehaut und keine nagende Gewissheit, dass hinter einer Tür oder im Schrank etwas lauerte. Vielleicht überschattete Óðinns Furcht, von Róbertas Verwandten überrascht zu werden, alles andere. Hoffentlich war das ein Zeichen dafür, dass es ihm besserging, dass er wieder so werden würde wie früher – der ganz normale, gewöhnliche Óðinn. Nicht der, der ständig mit einem flauen Gefühl im Bauch herumlief und meinte, Dinge zu sehen und zu hören, die es nicht gab. Vielleicht hatte die Wohnung diesen positiven Einfluss auf ihn. Vielleicht sollte er sie kaufen, am besten mit der kompletten Einrichtung, um die Atmosphäre nicht zu zerstören. Er lächelte über diesen absurden Gedanken, doch sein Lächeln verschwand, als er Diljá näher kommen hörte.
»Diese Eyjalín war total seltsam!« Diljá stand in der Türöffnung und wedelte mit den Briefen wie mit einem Fächer. »Wenn man sie in der richtigen Reihenfolge liest, merkt man, dass sie immer wütender auf diesen Einar wird. Im letzten Brief dreht sie völlig durch. Sie schreibt, er hätte sie betrogen und nie geliebt und wer weiß was noch alles. Unten auf die Seite hat sie seinen Namen geschrieben und ganz oft durchgestrichen, um ihm zu zeigen, wie sehr sie ihn hasst. Man kann die Buchstaben kaum noch erkennen. Ich konnte sie erst lesen, als ich das Blatt umgedreht habe. Bei diesem Einar muss nach seiner Entlassung ja eine Bombenstimmung gewesen sein.«
»Er ist vorher gestorben.«
»Oh.« Diljá trat ins Zimmer. »War er einer von denen, die im Auto erstickt sind?«
Offenbar hatte sie die Meetings in der Behörde doch genauer mitverfolgt.
»Ja.«
Als Óðinn den Kleiderschrank aufmachte, stieg ihm ein aufdringlicher Parfümgeruch in die Nase. Die Stange war so dicht mit Kleidern, Jacken und Blusen behangen, dass sie sich in der Mitte durchbog. Er bückte sich, um nachzusehen, ob sich etwas auf dem Boden des Schranks verbarg, fand aber nur mehrere Paar Schuhe, von denen die meisten längst aus der Mode waren.
»Diese Frau habe ich doch bei der Beerdigung gesehen. Ich saß sogar neben
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