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Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Titel: Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen, musste er leichenblass sein. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, hielt ihm dann aber einfach nur die Tüte hin. Die Henkel waren doppelt verknotet, damit sie nicht aufging. Óðinn löste den Knoten und zog Papier aus der Tüte. Bingo! Unterlagen aus dem Büro. Sie fanden auch noch einen Karton mit weiteren Informationen über Krókur. Er stand an der Wand, als hätte Róberta ihn ins Auto stellen wollen, um ihn zurückzubringen, dann aber vergessen. Vielleicht am selben Morgen, als sie die Garage zum letzten Mal verlassen hatte.
    Als Óðinn das Garagentor hinter ihnen zumachte, fiel ihm ein schwerer Stein vom Herzen. Es war, wie in letzter Sekunde einem scharfen Auffahrunfall auszuweichen. Óðinn beschloss, die Schlüssel lieber im Büro aufzubewahren, als noch einmal mit dem Garagenschlüssel nach oben zu laufen. Sie würden bestimmt nicht noch mal ins Haus gelassen werden. Und sein Verlangen, von diesem Ort wegzukommen, war unendlich groß.

23. Kapitel
    Februar 1974
    Tobbi rutschte auf seinem Stuhl herum und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Er war ganz blass, wodurch seine Sommersprossen noch mehr auffielen. Aldís dachte gar nicht daran, ihn laufen zu lassen. Sie wollte Antworten auf ihre Fragen haben. Und irgendwie genoss sie es auch, ihn leiden zu sehen. Dann fühlte sie sich selbst besser, als könne sie ihren eigenen Frust auf Tobbi abwälzen. Sie hatte ihn auf dem Weg aus dem Speiseraum beiseitegenommen und in die kleine Stube weiter hinten im Haus gescheucht.
    »Du lügst, du weißt genau, wo sie die Briefe aufbewahren!«
    »Nein, ich schwöre es dir, Aldís. Sie nehmen mir die Briefe nur ab, und ich weiß nicht, was sie damit machen. Ich schwöre!« Seine großen, blauen Augen glänzten feucht unter seinem zerzausten Haarschopf. »Das ist die Wahrheit!«
    Aldís war sich ziemlich sicher, dass er die Wahrheit sagte. Er hatte Angst vor ihr, und wenn er sie mit einer anderen Antwort bremsen könnte, würde er es machen. Doch Aldís war so erpicht auf eine Aussage, dass sie ihn nicht gehen lassen konnte.
    »Warum sollte ich dir glauben?«, fragte sie und hätte ihn am liebsten geschüttelt. »Du hast Lilja und Veigar monatelang dabei geholfen, etwas zu nehmen, was ihnen nicht gehört, hast verhindert, dass die Jungen, von denen die meisten sogar deine Freunde sind, Briefe von ihren Eltern bekommen. Sie sind Diebe, und du hast ihnen geholfen, und weißt du was?«
    Der Junge schüttelte den Kopf und wollte die Antwort gar nicht wissen.
    »Du bist nicht besser als sie. Du bist ein Dieb!«
    Tobbi knabberte an seiner Unterlippe und zwinkerte hektisch mit den Augen. Er war den Tränen nahe, und Aldís wurde etwas nachgiebiger.
    »Wenn du mir sagst, was mit den Briefen passiert ist, bist du hundertmal besser als sie. Wir machen alle mal Fehler, aber wir bekommen nur selten die Gelegenheit, sie wiedergutzumachen. Du hast Glück, du bekommst eine zweite Chance.«
    Ein Hoffnungsfunke leuchtete in Tobbis Augen auf, erlosch jedoch sofort wieder, als er merkte, dass Aldís immer noch auf dasselbe hinauswollte.
    »Ich weiß nicht, was sie mit den Briefen machen. Ich wollte, ich wüsste es, dann könnte ich es dir sagen. Aber ich weiß es nicht«, jammerte er.
    Aldís richtete sich auf. Sie hatte sich mit den Händen auf die Stuhllehnen gestützt und drohend über Tobbi gebeugt. Als ob das nötig gewesen wäre. Er war nur ein kleiner Junge und sie erwachsen, auch wenn sie sich nicht unbedingt so vorkam.
    »Nehmen wir mal an, ich würde dir glauben …« Tobbi öffnete den Mund, um etwas zu murmeln, brachte aber kein Wort heraus. Stattdessen nickte er mit offenem Mund. »Und nehmen wir mal an, du würdest es mir erzählen, wenn du wüsstest, wo die Briefe aufbewahrt werden.« Tobbi nickte, klappte den Mund wieder zu und schluckte. »Dann weiß ich eine Lösung.«
    Seine großen, runden Augen verengten sich.
    »Was meinst du?«
    »Nachher kommt doch das Postauto, oder?«
    »Ja, dienstags und freitags um drei Uhr. Sie schicken mich um halb vier los, um die Post zu holen. Wenn sich das Postauto verspätet hat, muss ich warten. Dabei ist es so kalt. Im Sommer war es mir egal, wenn sie mich früher losgeschickt haben. Da war es besser, unten an der Straße zu stehen, als hier zu sein. Da habe ich sogar gehofft, dass es sich verspätet.«
    »Ich hab dich nicht um deine Lebensgeschichte gebeten.«
    Aldís bereute ihre Worte sofort. Das wenige, was sie über Tobbis

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