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Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Titel: Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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und legte das Buch weg. »Du wirkst so unkonzentriert.«
    Das war völliger Blödsinn, und das wussten sie beide. Aldís erledigte alles wie immer, schnell und gründlich. Sie hatte sich sogar noch mehr ins Zeug gelegt als sonst, als sie ihren Chef im Zimmer sitzen sehen hatte. Dabei war es in dem Raum alles andere als schmutzig. Das Zimmer, das der Saal genannt wurde, obwohl es sich nur um ein großes Wohnzimmer handelte, wurde nur benutzt, um den Jungen Gotteswort und gute Sitten zu predigen. Die täglichen Gebetsstunden waren nur kurz, keiner betrat den Raum mit Schuhen, und alle mussten sich vorher das Gesicht und die Hände waschen. Als kümmere sich Gott nicht auch um Jungen mit Trauerrändern unter den Fingernägeln.
    »Ich mache alles genau wie immer«, antwortete sie freiheraus, ohne rot zu werden oder eine Entschuldigung zu murmeln. »Soll ich irgendwas anders machen?«
    Veigar erhob sich und kam zu ihr. Er wusste offenbar nicht, wie er auf eine solche Unverschämtheit reagieren sollte. Er strich mit seinem dicken Finger über den Deckel des Klaviers und betrachtete seine Fingerspitze. Dann pustete er auf seinen Finger, als wolle er Staub wegblasen.
    »Du kommst nicht mehr zu unseren Zusammenkünften. Es würde dir nicht schaden, das wieder aufzunehmen. Es tut uns allen gut, Gotteswort zu lauschen. Höheren wie Niederen.«
    Aldís wusste, dass sie in seinen Augen zur letzteren Gruppe zählte.
    »Ja, bestimmt«, entgegnete sie und hatte den Eindruck, dass er ihre Botschaft kapiert hatte: Es war ihr völlig egal. »Ich bin fertig mit dem Üblichen, soll ich hier sonst noch was machen?«, fragte sie, ohne zu lächeln.
    Er hatte es nicht verdient, dass man freundlich zu ihm war. Am besten stellte sie sich vor, sie würde mit der Wand hinter ihm sprechen. Beide hatten schon bessere Zeiten erlebt: Die Tapete war verblichen und löste sich an den Übergängen, und Veigar hatte tiefe Falten zwischen den Augen.
    »Vielleicht das Pult?«, fragte sie.
    Veigar und Lilja nannten es »Altar«, aber es war nur ein altes Holzpult und dahinter eine Anrichte mit einem weißen Tuch. Darauf standen ein gigantisches Kreuz und zwei Kerzenständer, die nicht zusammengehörten. An der Wand hing ein Bild von Jesus am Kreuz. Es war bizarr, sich vorzustellen, dass die Vorlage dafür wahrscheinlich in einem prachtvollen Dom irgendwo in Europa hing, und Aldís überlegte manchmal, ob der leidvolle Ausdruck des Erlösers von seinem Erstaunen darüber herrührte, wo er gelandet war. Das Einzige, was er zu hören bekam, waren Veigars heuchlerische Predigten.
    »Oder ist dir das fein genug?«
    Veigar ging auf sie zu, groß und kräftig, und Aldís bereute es, nicht den Mund gehalten und einfach gegangen zu sein. Sie dachte an Tobbis Worte und verstand jetzt genau, was er meinte. Sie war diesem Mann völlig gleichgültig, ihm war zuzutrauen, dass er sie ohrfeigte oder schlug. Wer würde ihr glauben, wenn Aussage gegen Aussage stand? Sie machte einen Schritt zurück, und das Knarren der Bodendielen hallte durch den Raum. Das Geräusch stellte die Machtverteilung wieder her: er bedrohlich, sie ängstlich.
    »Sei nicht so frech zu mir, Mädchen.«
    Seine Augen wurden noch schmaler, und Aldís musste daran denken, wie unähnlich sie den Augen des Babys waren, die in dem kleinen, entstellten Kopf furchtbar groß und dunkel gewirkt hatten.
    »Ich hab ja nur gefragt«, sagte sie und fühlte sich gestärkt, als sie hörte, wie entschlossen ihre Stimme klang. Dann schoss ihr durch den Kopf, ihm ins Gesicht zu sagen, dass sie wisse, wo das Kind vergraben sei, merkte aber sofort, dass das ein fataler Fehler wäre. Was sollte sie danach sagen? Und damit basta? Doch durch diese plötzliche Eingebung wurde das Bild vor ihren Augen klarer. Woher wusste Tobbi eigentlich, dass das Kind gelebt hatte? Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass das nur wenige wissen konnten. Sie hatte niemandem erzählt, dass sie ein Lebenszeichen an dem Kind wahrgenommen hatte, noch nicht einmal, als sie mit betrunkenem Kopf mit Einar darüber geredet hatte. Er wusste nur, dass die beiden ein Kind bekommen hatten, das verschwunden war. Ein totes Kind. Kein Kind, das die Augen aufgeschlagen hatte. Das hatte sie bewusst weggelassen, weil sie sich keineswegs sicher war – vielleicht öffneten sich die Augen nach dem Tod automatisch, wenn die Muskeln erschlafften. Sie wollte keine große Sache daraus machen, falls es eine natürliche Erklärung dafür gab oder sie sich einfach nur

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