Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
verguckt hatte. Aldís nahm sich vor, Tobbi noch einmal in die Mangel zu nehmen, wenn er ihr die Post brachte. Falls er das mit der Post hinkriegte.
Veigars verkniffenes Gesicht löste sich ein wenig, und er setzte ein anbiederndes Lächeln auf.
»Wir wollen uns doch nicht streiten. Nicht hier vor dem Erlöser.«
Darauf fiel Aldís nichts ein. Dem Gesichtsausdruck des Erlösers nach zu schließen hatte er andere Sorgen als ihre Auseinandersetzung.
»Ich gehe jetzt und mache Kaffee«, sagte sie und schaute auf ihre Uhr. Es war halb drei. Sie hatte die Uhr von ihrer Mutter zur Konfirmation geschenkt bekommen, und es war an der Zeit, das Uhrband zu erneuern – genauso wie die Beziehung zu ihrer Mutter. »Sonst wird es zu spät.«
Doch Veigar wollte sie nicht so leicht entkommen lassen und baute sich vor ihr auf.
»Hast du dich nachts auf dem Hof rumgetrieben?«
Aldís spürte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach. Hatten Einar und sie in der Nacht etwas im Stall liegenlassen? Es war schon ziemlich lange her, aber vielleicht hatte man ja erst jetzt etwas entdeckt. Veigar konnte eigentlich nichts anderes meinen, denn bis auf dieses eine Mal hatte sie ihr Zimmer abends nach der Arbeit nicht mehr verlassen. Einar hatte sie gedrängt, sich noch mal mit ihm zu treffen, aber sie war ihm ausgewichen. Sie hatte sich vorgenommen, keinen weiteren Kontakt zu ihm zu haben, bevor sie nicht mehr über ihn wusste. Durch den Inhalt des Briefs an Veigar konnte sie sich nicht länger einreden, dass das alles ein Missverständnis sei, dass er ein guter Mensch sei und völlig unschuldig. Jetzt, da sie wusste, dass er etwas verbrochen hatte, anscheinend gegenüber einem Mädchen, fand sie Einar nicht mehr ganz so attraktiv und spannend wie am Anfang. Deshalb wollte sie unbedingt mehr über ihn wissen, sowohl aus reiner Neugier als auch um sich ein besseres Bild darüber zu machen, was für ein Mensch er war. Wie lächerlich es auch klingen mochte, sie glaubte, ihn ändern zu können, ihn zu einem besseren Menschen machen zu können – genau das, wovor ihre Mutter sie so oft gewarnt hatte; Menschen könne man nicht ändern, das sei alles nur Träumerei.
»Nein, ich war immer nur in meinem Zimmer.«
»Ganz sicher?«
Sie konnte das Rasierwasser riechen, mit dem sich Veigar morgens einsprühte. Der Geruch wurde im Lauf des Tages schwächer, aber jetzt war er genauso intensiv wie frühmorgens, vermischt mit einem bitteren Schweißgeruch. Aldís kam nicht umhin, diese Ausdünstung einzuatmen. Es kitzelte sie in der Nase, und sie hätte sich am liebsten geschnäuzt.
»Ich habe nämlich ein Mädchen gesehen, und von denen gibt es hier ja nicht so viele, nicht wahr?«
»Nein.« Aldís wich vor ihm zurück, wurde den Geruch aber nicht los. Zum ersten Mal bemerkte sie, dass seine Nase mit kleinen, schwarzen Punkten übersät war. Erwachsene konnten also auch Mitesser bekommen, dabei hatte sie gedacht, davon würden nur Jugendliche geplagt. »Ich war in meinem Zimmer. Wann genau soll das denn gewesen sein?«
»Gestern Abend zum Beispiel.«
»Nein, ich war nicht draußen. Das muss jemand anders gewesen sein«, entgegnete Aldís erleichtert. Er verwechselte sie bestimmt mit jemandem. Aber mit wem? Keiner der Jungen war besonders feminin, wobei der Unterschied aus einer gewissen Entfernung vielleicht nicht so gut zu erkennen war.
Veigar schaute sie skeptisch an. Dabei entspannten sich seine Gesichtsmuskeln, und sein Gesicht sah aus, als schmelze es.
»Bist du sicher? Wer soll es denn sonst gewesen sein?«, sagte er mehr zu sich selbst.
»Ich jedenfalls nicht.« Aldís atmete auf, als Veigar sich ein Stück von ihr entfernte. Jetzt konnte sie die Mitesser nicht mehr erkennen und das Rasierwasser nicht mehr riechen. »Vielleicht Lilja. Oder einer der Arbeiter. Es war doch dunkel, oder?«
»Es ist immer dunkel.«
»Vielleicht hast du das auch nur geträumt«, sagte sie mitfühlend, zu ihrer und seiner Verwunderung.
»Nein.«
Er schaute ihr fest in die Augen, runzelte die Stirn, holte sein Buch und ging ohne ein weiteres Wort aus dem Raum.
Es war kurz vor fünf, als Tobbi Aldís schüchtern auf den Rücken tippte. Er atmete heftig, als sei er gerannt, dabei hatte sie ihn gar nicht kommen hören. Aldís war froh, ihn zu sehen, denn sie hatte beim Kaffee vergeblich nach ihm Ausschau gehalten und schon befürchtet, er sei von Lilja und Veigar beim Spionieren erwischt worden.
»Ich weiß, wo sie die Post aufbewahren.«
Er schaute sich
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