Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Er hätte ja kurz darauf zurückkommen können. Ich weiß nicht, wie lange eine Geburt dauert.«
»Meistens ziemlich lange.«
»Ja, inzwischen weiß ich das auch. Als mir klarwurde, dass er nicht zurückkommt, war es draußen so dunkel, dass ich mich nicht alleine rübergetraut habe.« Tobbi errötete vor Scham. Die älteren Jungen hatten ihn bestimmt wegen seiner Angst vorm Dunkeln aufgezogen. »Ich wollte lieber im Stall schlafen, im Heu. Aber ich konnte nicht einschlafen, und als ich draußen jemanden gehört habe, bin ich in die Kaffeestube gegangen und hab aus dem Fenster geschaut. Und da hab ich Veigar im Mondschein gesehen.«
Tobbi schluckte erneut.
»Was hat er gemacht?«
»Er trug etwas, das in ein weißes Laken gewickelt war. Es war ganz blutig.«
Aldís war erleichtert. Tobbi hatte aus dem Blut einen falschen Schluss gezogen.
»Er hatte auch eine Schaufel dabei. Dann hat er das Bündel abgelegt und bei dem Baum ein Loch gegraben. Das war ziemlich schwierig, und er hat viel geflucht«, erzählte der Junge weiter.
»Das Kind wurde tot geboren, Tobbi. Das Blut war nicht von ihm, sondern von Lilja. Es blutet, wenn Kinder geboren werden«, erklärte Aldís. Sie hatte schon oft über Geburten und die Geschichten nachgedacht, die sie von den Freundinnen ihrer Mutter gehört hatte. Und das reichte ihr, um zu wissen, dass sie nie ein Kind bekommen wollte.
»Es hat gelebt, Aldís. Es hat geweint.«
»Geweint?«
Jetzt musste sie schlucken.
»Ja, sogar noch, nachdem er es in das Loch gelegt hatte. Die ganze Zeit, bis man durch die Erde nichts mehr hören konnte.«
Das war entsetzlicher, als Aldís es sich in ihren schlimmsten Träumen vorgestellt hatte. Warum war sie ausgerechnet jetzt dahintergekommen, in diesem Moment? Sie wollte das Gesicht des Kindes nicht vor sich sehen, wenn sie in der Nacht in den Keller schlich, geschweige denn sein Weinen hören. Doch während sie dastand und Tobbi weglaufen und dabei zweimal auf den glatten Steinen ausrutschen sah, wusste sie, dass ihr Wunsch nicht erfüllt würde. Das sterbende Kind hatte sich bereits in ihrem Kopf eingenistet.
24. Kapitel
Die alte Dame lächelte dankbar und gab Óðinn einen Tausendkronenschein.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Sie hatte ihn gebeten, eine lockere Tür an ihrem Küchenschrank wieder festzuschrauben. Als sie merkte, dass er das Geld nicht annehmen wollte, fügte sie hinzu:
»Geben Sie das Geld Ihrer Tochter, wenn Sie es nicht nehmen wollen. Sie spart doch bestimmt für irgendetwas.«
Verlegen steckte Óðinn den Geldschein in die Tasche. Dann klappte er seinen Werkzeugkoffer zu und öffnete und schloss noch ein letztes Mal testweise den Schrank.
»Das sollte eine Weile halten. Wenigstens ein Jahr«, sagte er.
»Das reicht mir«, erwiderte die Frau und stützte sich auf die Küchenplatte. Sie wirkte viel gebrechlicher, als Óðinn sie in Erinnerung hatte – vielleicht weil er es nicht gewohnt war, sie ohne ihren dicken Mantel zu sehen. »So lange bin ich bestimmt nicht mehr hier.«
»Aber …« Óðinn hoffte, dass man ihm seine Nervosität nicht ansah. »Ist das nicht ein bisschen zu pessimistisch?«, fragte er und hob den Werkzeugkoffer hoch.
»Nein, nein, ich will nicht mehr.« Sie schien es gar nicht zu bedauern, das irdische Leben verlassen zu müssen. »Es ist nur schade für Sie. Dann sind Ihre Tochter und Sie ganz alleine im Haus, aber hoffentlich werden bald noch ein paar Wohnungen verkauft. Ihre Tochter freut sich bestimmt über Spielkameraden. Vielleicht zieht ja eine Familie mit Kindern in meine Wohnung, wenn ich nicht mehr da bin.«
»So lange muss Rún hoffentlich nicht mehr warten. Sie leben bestimmt viel länger, als Sie glauben«, sagte Óðinn und trat von einem Bein aufs andere. Er wollte wieder nach oben, aber auch nicht unhöflich sein.
»Nein, ich spüre, dass es bald so weit ist«, sagte sie und rückte den Kragen ihres Pullovers mit ihrer seltsam jugendlich anmutenden Hand zurecht. Es war kalt in der Wohnung, wie im ganzen Haus. »Das ist wie bei meiner Mutter und meiner Großmutter, ich werde rechtzeitig vorgewarnt.« Sie ließ ihren Kragen los, und er fiel wieder an dieselbe Stelle. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie und Ihren Bruder wegen dieser Geräusche im Flur belästigt habe, aber mir war einfach nicht klar, was es ist.«
»Ich verstehe nicht ganz«, murmelte Óðinn. Der Werkzeugkoffer zog ihn nach unten, obwohl er nicht besonders schwer war.
»Das ist auch kein Wunder«,
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