Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Hintergrund wusste, war nicht schön. Sein Vater lebte mehr hinter Gefängnismauern als draußen, und zu Hause richtete sich seine Wut gegen seinen Sohn. Aldís hatte gehört, dass Tobbi schon mehr Knochenbrüche gehabt hatte als alle Jungen im Heim zusammen. Ihre Stimme wurde weicher.
»Ich möchte, dass du Veigar und Lilja die ganze Post gibst, Briefe und Päckchen, und sie dann beobachtest. Dann siehst du, was sie damit machen.« Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust. »Das gilt aber nicht für Briefe an mich. Ich will alle meine Briefe sofort haben, kapiert?«
»Aber …«
»Kein aber. Es ist mir völlig egal, wie du das machst.«
Und das meinte sie ernst. Sie hatte jeden Winkel von Veigars Büro und andere in Frage kommenden Stellen erfolglos durchsucht. Vor lauter Enttäuschung hatte sie dann versucht, sich nicht länger den Kopf darüber zu zerbrechen und sich stattdessen auf die Arbeit zu konzentrieren. Doch heute Morgen war sie mit dem Entschluss aufgewacht, Tobbi in die Mangel zu nehmen. Sie musste die Post einfach haben, daran führte kein Weg vorbei. Sie musste herausfinden, wie es dazu gekommen war, dass dieser Widerling bei ihrer Mutter ausgezogen war, und ob ihre Reue ehrlich war. Erst dann konnte sie entscheiden, ob sie wieder Kontakt zu ihr haben wollte.
Zudem wollte sie die Briefe an Einar sehen, um die Gründe für seinen Aufenthalt im Heim zu erfahren. Das eine Blatt, das sie in dem Aktenordner gefunden hatte, sagte alles und nichts. Beim Lesen war ihr klargeworden, dass es sich um einen ungewöhnlichen Fall handelte. Der Brief war an Veigar gerichtet und unterschrieben von einem Mann namens Jóhannes Ólafsson, der sich als Richter bezeichnete. Dennoch schrieb er nicht kraft seines Amtes, sondern wandte sich als alter Bekannter an Veigar. Er bat ihn, einen Jungen aufzunehmen, der älter sei als die anderen Heimbewohner. Außerdem werde der Aufenthalt nicht offiziell angewiesen, sondern finde ohne die Einschaltung der Behörden statt. Dabei handele es sich nicht um etwas Ungesetzliches, sondern um eine Maßnahme, die allen zugutekäme und niemandem schade. Nähere Erläuterungen werde er Veigar telefonisch geben, es gehe um eine gerechte Strafe ohne Hinzuziehung des Rechtswesens. Zwar gebe es für die meisten Vergehen Strafmündiger passende Einrichtungen, aber in diesem Fall müsse das unschuldige Opfer darunter leiden, die junge Tochter des Unterzeichners. Kein Wort darüber, was Einar dem Mädchen angetan hatte. Aldís kam nur in den Sinn, dass er sie vergewaltigt haben könnte, fand das aber ziemlich unwahrscheinlich. Sie beugte sich wieder über Tobbi.
»Wenn du es nicht machst, erzähle ich den Jungen davon. Die sind mit Sicherheit nicht alle so verständnisvoll wie Einar, glaub mir.«
Tobbi schluckte erneut und leckte sich über die trockenen Lippen. Er wirkte so klein in dem großen Sessel und war so mager, dass seine Knie und Ellbogen doppelt so breit aussahen wie seine Beine und Arme. Aldís musste an zusammengewachsene Knochenbrüche denken und hätte ihm fast gesagt, er solle die ganze Sache vergessen. Doch er kam ihr zuvor.
»Ich versuche es. Ich verspreche dir, es zu versuchen.«
Seine Stimme war nur ein Flüstern, empfindlich und zerbrechlich wie eine dünne Eisschicht am Anfang des Winters. Aldís spürte den Atem des Jungen auf ihrem Gesicht. Er roch nach der Fleischsuppe, die es zum Mittagessen gegeben hatte.
»Gut. Komm zu mir, wenn du Bescheid weißt. Lüg Lilja und Veigar einfach vor, du hättest dir den Magen verdorben, wenn sie dich arbeiten schicken wollen.«
Tobbi stand vorsichtig auf, wobei er darauf achtete, sie nicht zu berühren, als fürchte er sich vor einem Stromschlag. Oder etwas noch Schlimmerem. Dann ging er mit hängendem Kopf zum Ausgang, drehte sich aber in der Tür noch einmal um.
»Und wenn sie mich erwischen, was dann? Sie haben ihr eigenes Kind umgebracht. Ich bin ihnen doch völlig egal.«
Er wartete nicht auf eine Antwort, drehte sich auf dem Absatz um und rannte hinaus.
Veigar schaute von seinem Buch hoch und stierte Aldís an. Sie stierte wider Erwarten zurück. Bisher war sie seinem Blick immer ausgewichen, wenn er mit finsterer Miene die Augen zusammenkniff.
»Was ist denn heute mit dir los?«, sagte er herablassend.
Aldís wischte weiter Staub, ohne ihren Blick zu senken.
»Nichts. Warum fragst du?«
»Nur so.« Wieder kniff er die Augen zu einem schmalen Spalt zusammen, bis sie schwarz aufblitzten. Dann räusperte er sich
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