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Seelen

Titel: Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephenie Meyer
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mögliche Evakuation - was auch immer das heißen mochte. Als Brandt in abgehackten Sätzen erklärte, warum er hier war, schaute Ian so grimmig, dass er aussah wie Kyle. Dann zog er ein weiteres leeres Feldbett neben meins, so dass er in Brandts Blickrichtung saß und ihm die Sicht auf mich nahm.
    Der Hubschrauber, Brandts misstrauischer Blick, das alles war eigentlich nicht so schlimm. An einem normalen Tag - wenn es so etwas überhaupt noch gab - hätte mir vielleicht schon eins von beidem zugesetzt. Heute nicht.
    Mittags hatte Doc Walter den letzten Rest Brandy gegeben. Nur Minuten später - zumindest kam es mir so vor - wand sich Walter, stöhnte und schnappte nach Luft. Seine Finger krallten sich in meine, aber sobald ich versuchte, meine Hand wegzuziehen, verwandelte sich sein Stöhnen in schrille Schreie. Ich entzog mich ihm einmal, um zur Latrine zu gehen; Brandt folgte mir, was Ian dazu veranlasste, ebenfalls mitzukommen. Als wir zurückkamen - nachdem wir fast den ganzen Weg gerannt waren -, klangen Walters Schreie nicht mehr menschlich. Auf Docs eingefallenem Gesicht spiegelten sich seine Qualen. Walter beruhigte sich, nachdem ich eine Weile mit ihm gesprochen und ihn glauben gemacht hatte, dass seine Frau bei ihm war. Es war eine leichte Lüge, eine barmherzige. Brandt gab leise, aufgebrachte Geräusche von sich, aber ich war überzeugt, dass er sich zu Unrecht aufregte. Angesichts von Walters Schmerzen war alles andere bedeutungslos.
    Das Wimmern hörte allerdings nicht auf, und Brandt ging am anderen Ende des Raums hin und her im Versuch, sich so weit wie möglich von dem Geräusch zu entfernen.
    Als das Licht über uns sich orange färbte, kam Jamie, um nach mir zu sehen, und brachte genug Essen für vier mit. Ich erlaubte ihm nicht zu bleiben; ich trug Ian auf, ihn zum Essen in die Küche zurückzubringen, und nahm ihm das Versprechen ab, Jamie die ganze Nacht zu bewachen, damit er sich nicht hierher zurückschlich. Walter konnte seine Schmerzensschreie nicht unterdrücken, wenn er beim Herumwälzen auch sein gebrochenes Bein bewegte, und sie waren unerträglich. In Jamies Erinnerung sollte sich diese Nacht nicht einbrennen, so wie in Docs und meine. Und vielleicht auch in Brandts, obwohl er tat, was er konnte, um Walter zu ignorieren, indem er seine Ohren verstopfte und eine schräge Melodie summte.
    Doc versuchte nicht, sich von Walters furchtbarem Leid zu distanzieren; stattdessen litt er mit ihm. Walters Schreie zeichneten tiefe Falten auf Docs Gesicht, als hätten Klauen ihm die Haut aufgeschlitzt.
    Es kam mir seltsam vor, so tief empfundenes Mitleid bei einem Menschen zu sehen, insbesondere bei Doc. Nachdem ich beobachtet hatte, wie er mit Walter litt, sah ich ihn mit anderen Augen. Sein Mitleid war so groß, dass es schien, als blute er innerlich. Ihn so zu sehen, machte es mir unmöglich zu glauben, dass Doc ein grausamer Mensch war; dieser Mann konnte einfach kein Folterknecht sein. Ich versuchte mich zu erinnern, auf welchen Aussagen meine Vermutungen basierten - hatte ihn jemand direkt beschuldigt? Ich glaubte nicht. In meiner Angst musste ich falsche Schlüsse gezogen haben.
    Ich bezweifelte, dass ich Doc nach diesem albtraumhaften Tag jemals wieder misstrauen konnte. Trotzdem würde ich seine Krankenstation immer grauenhaft finden.
    Mit dem letzten Tageslicht verschwand auch der Hubschrauber. Wir saßen im Dunkeln und wagten noch nicht einmal das gedämpfte blaue Licht anzumachen. Erst nach ein paar Stunden waren wir davon überzeugt, dass die Suche beendet war. Brandt war der Erste, der daran glaubte; er hatte wohl auch genug von der Krankenstation.
    »Kein Wunder, dass es aufgibt«, murmelte er, während er auf den Ausgang zuging. »Nachts kann es schließlich nichts sehen. Ich nehme einfach deine Lampe mit, Doc, damit Jebs Parasit nicht auf dumme Gedanken kommt.«
    Doc antwortete nicht und sah den mürrischen Mann noch nicht einmal an, als er ging.
    »Mach, dass es aufhört, Gladdie, mach, dass es aufhört!«, flehte Walter mich an. Ich wischte ihm den Schweiß aus dem Gesicht, während er meine Hand zerquetschte.
    Die Zeit schien immer langsamer zu verstreichen und schließlich stehenzubleiben; die schwarze Nacht nahm kein Ende. Walters Schreie wurden immer häufiger und klangen immer entsetzlicher.
    Melanie war weit weg, sie wusste, dass sie nichts tun konnte. Ich hätte mich auch versteckt, wenn Walter mich nicht gebraucht hätte. Ich war allein in meinem Kopf - genau, was ich

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