Seelen
dass er den menschlichen Körper am Leben gelassen hätte, wenn er es wirklich verstanden hätte.
Die Bitte wäre ihm allerdings wahrscheinlich komisch vorgekommen. Dies war für ihn sein Körper, kein eigenständiges Etwas. Ein Selbstmord war für ihn nichts weiter als ein Selbstmord, er sah ihn nicht gleichzeitig als Mord an. Nur ein Leben würde dadurch beendet. Und vielleicht hatte er damit sogar Recht.
Wenigstens hatten die Seelen überlebt. Das Licht auf seinem Tiefkühlbehälter leuchtete mattrot neben ihrem; ich konnte von Menschen keinen deutlicheren Beweis für ihre Loyalität erhalten als die Tatsache, dass sie sein Leben verschont hatten.
»Mary? Margaret? Susan? Jill?«
Obwohl Doc schlief und ich ansonsten allein war, konnte ich den Nachhall der Anspannung spüren, die die anderen zurückgelassen hatten; sie hing immer noch in der Luft.
Die Anspannung rührte daher, dass die Frau nicht aufgewacht war, nachdem die Wirkung des Chloroforms nachgelassen hatte. Sie hatte sich nicht gerührt. Sie atmete noch, ihr Herz schlug noch, aber sie hatte auf keinen von Docs Versuchen, sie aufzuwecken, reagiert.
War es zu spät? War sie verloren? War sie bereits weg? Genauso tot wie der Körper des Mannes?
Waren sie das alle? Gab es nur ein paar wenige, wie Lacey, der Wirtskörper der Sucherin, und Melanie - die Lauten, die Widerständler -, die zurückgeholt werden konnten?
War Lacey ein Ausnahmefall? Würde Melanie wirklich ebenso zurückkehren … oder war selbst das fraglich?
Ich bin nicht weg. Ich bin hier. Aber Mels Gedankenstimme war kleinlaut. Sie machte sich ebenfalls Sorgen.
Ja, du bist hier. Und du wirst hierbleiben, versprach ich ihr.
Seufzend nahm ich meine Bemühungen wieder auf. Meine vergeblichen Bemühungen?
»Ich weiß, dass du einen Namen hast«, sagte ich zu der Frau. »Heißt du Rebecca? Alexandria? Olivia? Vielleicht etwas Einfacheres … Jane? Jean? Joan?«
Es war besser als nichts, dachte ich trübsinnig. Zumindest hatte ich ihnen eine Möglichkeit gezeigt, sich selbst zu helfen, sollten sie jemals geschnappt werden. Wenn ich sonst schon keinem helfen konnte, so doch wenigstens den Widerständlern.
Aber es war irgendwie nicht genug.
»Du lieferst mir nicht gerade viele Anhaltspunkte«, murmelte ich. Ich nahm ihre Hand zwischen meine und rieb sie sanft. »Es wäre wirklich schön, wenn du dich ein bisschen anstrengen würdest. Meine Freunde sind schon niedergeschlagen genug. Sie könnten eine gute Nachricht gebrauchen. Außerdem ist Kyle immer noch weg… Es wird nicht leicht, alle zu evakuieren, wenn wir dich auch noch herumtragen müssen. Ich weiß, dass du helfen willst. Das hier ist deine Familie, weißt du. Deine Spezies. Sie sind sehr nett. Die meisten von ihnen. Du wirst sie mögen.«
Ihre freundlichen Gesichtszüge waren ausdruckslos und zeigten keine Spur des Verstehens. Sie war auf unauffällige Art ziemlich hübsch - sie hatte ein sehr regelmäßiges, ovales Gesicht. Fünfundvierzig, vielleicht ein bisschen jünger, vielleicht ein bisschen älter. Es war schwer zu sagen, da ihr Gesicht so unbewegt war.
»Sie brauchen dich«, fuhr ich fort, flehentlich jetzt. »Du kannst ihnen helfen. Du weißt so vieles, das ich nie gelernt habe. Doc gibt sich solche Mühe. Er hat wirklich Hilfe verdient. Du bist jetzt eine ganze Weile Heilerin gewesen, ein bisschen davon muss auf dich abgefärbt haben. Ich glaube, Doc wird dir gefallen.
Heißt du Sarah? Emily? Kristin?«
Ich streichelte ihre weiche Wange, aber sie reagierte nicht deshalb nahm ich erneut ihre schlaffe Hand in meine. Durch die Löcher in der hohen Decke starrte ich in den blauen Himmel. Meine Gedanken schweiften ab.
»Ich frage mich, was sie machen, wenn Kyle nicht wiederkommt. Wie lange werden sie sich verstecken? Werden sie sich irgendwo anders ein neues Zuhause suchen müssen? Es sind so viele … es wird nicht einfach sein. Ich wünschte, ich könnte ihnen helfen, aber selbst wenn ich hierbliebe, hätte ich keine Lösung.
Vielleicht bleiben sie letzten Endes doch hier … irgendwie. Vielleicht macht Kyle keinen Ärger.«
Ich lachte bitter, als ich an die verkorkste Situation dachte. Kyle war nicht gerade ein vorsichtiger Mann. Aber bis die Lage geklärt war, wurde ich hier gebraucht. Wenn die Sucher herkamen, würden vielleicht meine unschlagbaren Augen benötigt. Das konnte lange dauern und von dem Gedanken wurde mir wärmer als von der Sonne auf meiner Haut. Ich war dankbar dafür, dass Kyle so unbeherrscht
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